Six Objects of Desire – A Symptom Story
von Georg Stanka
tabula rasa
Objekte der Begierde sind in der Regel keine tatsächlichen Gegenstände. Vielmehr bezeichnen sie, sprichwörtlich und poetisch, Personen (in der Literatur oft weiblich), nach denen sich das Herz verzehrt. Dass sie mit dem Status eines ‚Objekts‘ belegt werden, spricht dabei für sich. Dabei lechzt der/die Verliebte meist nach echten Persönlichkeiten: Die Nymphe Io beispielsweise, für deren Eroberung der Gott Zeus (dem die Begierde ein geschätztes Hobby ist) einen ausgewachsenen Ehestreit mit seiner Gattin Hera riskiert. Oder, im fatal verdrehten Sinne, Narziss, der sich selbst zum begehrten Objekt wird und sein Schicksal durch übertriebene Selbstliebe besiegelt.
Ein Objekt der Begierde existiert nie allein. Es ist abhängig vom Begehren anderer.
Die Fotoserie Six Objects of Desire zeigt eine Reihe von sechs tatsächlichen Objekten in unterschiedlichen Kontexten. Das Begehrt-Werden dieser Objekte, wie es der Titel der Arbeit behauptet, erschließt sich allerdings nicht auf den ersten Blick. Attraktivität ist hier nicht im materiellen oder ideellen Wert der abgebildeten Objekte zu suchen. Das Verlangen der Betrachtenden speist sich vielmehr aus dem Wunsch nach der Entschlüsselung von verborgener Bedeutung, nach inhaltlicher Erschließung, nach einer Lesbarkeit der Bilder. Doch einer einfachen Lesbarkeit möchte sich Six Objects of Desire entziehen und den Rezipierenden so die Möglichkeit geben, selbst aktiv zu werden, eigene Schlüsse zu ziehen, eigene Ideen in die Interpretation der Bilder einzubringen und so eine persönliche Lesart zu finden. Die Serie beschreibt den Versuch, ‚tabula rasa‘ zu machen, die Leinwand zu weißeln und die Bildbetrachtung von eingefahrenen Deutungsmustern, die eine freie Sicht auf die Fotografien verstellen, zu befreien.
Kunst ist im besten Fall die produktive Kommunikation zwischen Künstler*in und Rezipient*in, mit dem Kunstwerk als Medium in einer vermittelnden Funktion. Ist es möglich, (Kunst-)Objekte von tradierten Zuschreibungen, seien diese emotional oder diskursiv, zu befreien?
Seit Jahrhunderten gibt es Bestrebungen, Kunst von Verwertungsmechanismen zu erlösen. Die ästhetische Position der ‚l’art pour l’art‘ – der ‚Kunst um der Kunst Willen‘ – versucht, Kunstwerke von kommerzieller oder politischer Objekt- oder Sinnproduktion abzugrenzen. „Es gibt nichts wirklich Schönes, außer dem, das zu nichts nütze ist“, befand dazu der französische Schriftsteller Théophile Gaultier bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Und lag damit aus mehrerlei Gründen durchaus daneben: Aus heutiger Sicht ist Schönheit, im Unterschied zur Ästhetik, nur schwer kategorisierbar. Die Produktion von ‚Schönem‘ kann außerdem durchaus zweckgebunden sein. Zum einen dient sie positiven, konstruktiven Prinzipien wie denen der persönlichen und gesellschaftlichen, emotionalen oder diskurs-ästhetischen Erbauung. Zum anderen ist das Verpacken von Inhalten, also Waren, in ein möglichst ‚schönes‘ Erscheinungsbild ein probates Mittel kommerzieller Umsatzsteigerung. Was Gaultier zudem wohl nicht erahnen konnte: Die heutige, ästhetische Wertschätzung von Gegenständen beschränkt sich längst nicht mehr auf Objekte, die explizit in einem Rahmen von Kunst(-handwerks-)produktion entstehen. Schönheit finden zeitgenössische Betrachtende auch in Dingen des Alltags wie Haushaltsgegenständen, Werkzeugen oder (Industrie-)Maschinen. Dennoch verschwindet der Impuls der Kunst, sich von benachbarten Disziplinen wie Design oder Handwerk abzugrenzen, nur zögernd. Dabei entsteht menschengemachte ‚Schönheit‘ potenziell überall dort, wo Dinge hergestellt werden oder, konsequenter gedacht: überall, wo Umgebung auf menschliches Schönheitsempfinden trifft.
Das Verhältnis zwischen Künstler*innen, Kunstwerken und Publikum befindet sich in stetem Wandel. Der Diskurs macht eine Toilette zur Kunst. Die Toilette erlaubt den Diskurs.
Die Objektkunst versetzt dem Kunstdiskurs zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Schock. Marcel Duchamp, ein französisch-amerikanischer Künstler, nimmt Gegenstände aus ihrem Alltags-Zusammenhang, stellt sie auf Sockel, benennt sie neu und – voilà, fertig das Werk. Der Aufschrei des Publikums gehört zur Arbeit, genau wie die Rezeption der Kritiker*innen und die Einführung von Werk und Künstler*in in den Kunst-Kanon. Die weiße Leinwand – oder nennen wir sie hier vielleicht besser: die Ratlosigkeit – ist auf Seiten des Publikums zu suchen. In dessen Köpfen rotieren Begriffe und Bezeichnungen, Vorstellungen und Verbindungen. Ängste um das Altbekannte und Ängste vor dem Unbekannten irren in einem Nebel, der sich doch irgendwann lichten muss und neue Benennungen, Zusammenhänge, Zuschreibungen und Wertesysteme freigibt. In der Wahrnehmung von Kunst hat eine Veränderung stattgefunden, das Revolutionäre wird normal.
Gegenstände verlieren dann die Selbstverständlichkeit ihres Nutzens, wenn sie uns stören. Sie müssen uns ein bisschen wehtun. In der Kunst können Objekte die Betrachtenden durch ihre Beschaffenheit oder durch Kontexte irritieren. Sie können aber auch Begegnungen zwischen Künstler*in und Publikum ermöglichen.
Die französische Künstlerin Sophie Calle beschäftigt sich unter anderem mit der Beziehung zwischen Menschen und Objekten. Sie errichtet auf einer Pariser Seine-Brücke eine Telefonzelle, die aussieht wie riesige, aneinander lehnende Papierstreifen in Lila, Rot und Gelb. Mit seinen grellen Farben lockt das Objekt Passant*innen an wie eine Blüte die Bienen. Calle fängt ihre ‚Opfer‘ ein und nimmt sie aus. Von zu Hause wählt sie das ‚Blüten-Telefon‘ an, verwickelt jede*n, den/die sie an den Apparat bekommt, in Gespräche und benutzt die privaten Informationen als Grundlagentexte für neue Projekte – genau genommen ein übergriffiger Akt. Das Publikum erliegt dabei den ästhetischen Reizen des Materials. Seine Neugier auf das Unbekannte, nicht Les- aber Erforschbare zieht es buchstäblich in das Objekt hinein. Seine Unwissenheit macht es zum Komplizen der Kunst, private Informationen verschmelzen mit denen des öffentlichen Objekts. In seiner Ahnungslosigkeit wird das Publikum Teil des Kunstwerks. Zwischen der Künstlerin und den Beteiligten findet so ein intensiver Austausch statt. Einverständnis nicht vorausgesetzt.
Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß: Zielgerichtete Informations-Reduktion kann zu Produktivität und persönlichem Wohlergehen beitragen.
Bilder-Fluten, Content-Creation und Fake-News. Zumindest die westliche Welt leidet unter einem Zuviel an (Nachrichten-)Material. Wie leicht gerät man, vor allem in Zeiten von Social Media, Wikipedia und Google, in einen Sog der Information. Ein Mechanismus, den die US-amerikanische Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick als ‚paranoid reading‘ bezeichnet: Das Sammeln von Informationen um einer Erkenntnis willen, die Recherchierende am Ende zwar klüger, aber nicht unbedingt zufriedener macht. Überinformation führt zwangsläufig zu profundem Wissen über die Missstände der Welt. Deren Ausmaß ahnte man bereits vorher, nach gründlicher Lektüre findet man sich jedoch auf überwältigende Weise bestätigt. Als Gegenmittel empfiehlt Sedgwick das sogenannte ‚reparative reading‘ zu erlernen. Eine konstruktive Technik, die das Bewusstsein über die eigene Wirkmächtigkeit stärkt. Nicht in der Anhäufung einer größtmöglichen Menge von Wissen, sondern durch die Anwendung eines konkreten Ausschnittes von Information kann der/die Einzelne produktiv handeln. Im Fokus steht die Auseinandersetzung mit den eigenen Möglichkeiten. Die Akzeptanz der Fragmentiertheit des persönlichen Wissens sowie die effektive Anwendung desselben ermöglicht eine angstfreiere, tiefergehende Begegnung mit der Umgebung und eine Stärkung der individuellen Deutungsmacht.
Ein Loch ist im Eimer – die Intention der Fotoserie Six Objects of Desire.
In der Beziehung zwischen Kunstwerk und Publikum wirklich ‚tabula rasa‘ zu machen, ist ein Ding schierer Unmöglichkeit. Selbst ein sprichwörtlich weißes Blatt trifft auf denkende, fühlende Rezipient*innen, vorgeprägte Subjekte, die sowohl das Vorhandensein als auch das Fehlen von Information registrieren, einordnen und bewerten. Six Objects of Desire macht dennoch einen Versuch: den der Reduktion einfach lesbarer Information. Die Formen der sechs Objekte, die im Zentrum der Arbeit stehen, sollen an Bekanntes zwar erinnern, ein tatsächliches Erkennen aber nur beinahe ermöglichen. Um Einfluss auf das Wirken der Bilder zu haben, sind bestimmte Voraussetzungen nötig: Bis auf einige Elemente der Natur (Nachthimmel, Moos, Pilze, Garten, Weiher) und die abgebildeten Menschen – Freund*innen des Künstlers und dieser selbst – wird alles Abgebildete eigens in Handarbeit für die Inszenierung der Fotografien hergestellt. Das ‚Erkennen‘ etwaiger kommerziell hergestellter Gegenstände kann so ausgeschlossen werden. Die sechs Objekte bestehen aus geschnitztem und geschliffenem Hartschaum, der mit Papier verkleidet und lackiert wird. Die Kulissen sind aus großen Bögen von Buntpapier gefertigt, die Kleidung aus gestrickter Wolle, einige kleinere, die Kunststoff-Objekte ergänzende ‚Hilfs-Objekte‘ aus gefärbter Gelatine. Auch wenn die einfachen Formen der Objekte an Gegenstände wie Vasen oder Schalen erinnern, beziehen sie sich in ihrer Gestaltung ausschließlich aufeinander. In ihrem jeweiligen Zentrum findet sich, auf symbolischer wie materieller Ebene, eine Leerstelle: Alle sechs Objekte haben in der Mitte ein Loch. Durch das Einbetten der Objekte in sehr unterschiedliche Inszenierungen wird ihr ‚neutraler‘ Charakter, ihre Wandelbarkeit, ihr ‚Nicht-Eindeutig-Bestimmt-Werden‘ gezeigt.
Die Bilder selbst, wirken sie mitunter auch wie Schnappschüsse, sind präzise orchestriert. Ihr Aufbau folgt einfachen, traditionellen Bildkompositionen, jedoch: Goldener Schnitt, Zentralperspektive und Diagonalen führen die Sehgewohnheit in die Irre. Klassische Konstruktionselemente dienen zwar einer formalen Lesbarkeit – die Bilder sind durchaus ästhetisch gefällig, die Farbgebung harmonisch –, wer aber nach greifbaren, inhaltlichen Erklärungen der Inszenierung sucht, fällt auf die Attraktivität des Köders herein, denn auf bekannte Deutungsmuster kann kaum zurückgegriffen werden.
Eine kurze Beschreibung zweier Bilder der Serie:
Ein kompletter Raum, samt Türbogen, Boden, Fernseher und Vorhang, wird aus Buntpapier gebaut. Deutlich hebt sich vor den dunkelroten Wänden das leuchtend hellrosa Gehäuse des Fernsehers ab. Das Fernsehbild besteht nicht aus Lichtpunkten, sondern ist auf Papier gedruckt. Es zeigt einen Jungen, der ein großes, ebenfalls rosa Objekt durch tiefes, dunkles Wasser trägt. Im linken unteren Bereich des Raums liegt am Boden ein Kegel. Sein Material ist durch die mattglänzende Oberfläche nicht leicht zu bestimmen: Es besteht aus milchig-blau gefärbter Gelatine. Das große gelbe Kunststoffobjekt, das rechts oben an der Wand hängt, ist hier Hintergrunddekoration, allerdings eine Dekoration mit Gewicht. Die aufsteigende Diagonale zwischen linker unterer Bild-Ecke, Kegel und Fernseher, läuft auf das Objekt zu. Der Schlüssel zum Rätsel des Bildes, so suggeriert die westliche Lesrichtung, liegt im Zusammenspiel der drei Objekte. Innerhalb der Inszenierung existieren die Objekte dabei sehr selbstverständlich. Diese Selbstverständlichkeit wird durch den ruhigen Bildaufbau und die Bildsprache erzeugt: Die Ästhetik der Fotografie erinnert in ihrer Farbgebung und Beleuchtung an spanische oder US-amerikanische Mystery-TV-Serien und -Kinofilme der späten 80er- und frühen 90er-Jahre.
Das weiße Objekt mit seinen drei Armen glänzt irisierend, perlmuttartig. Die Form ist dezidiert künstlich und deutet auf ein ‚Gemachtsein‘ hin. Auch dieses Objekt besitzt keine eindeutige Funktion. Dabei ist es nicht abstrakt: Es könnte ein exotischer Fetisch sein, ein (Sex-)Spielzeug, ein mehrarmiger Trichter, ein Element einer in die Zukunft deutenden Apparatur. Die Fotografie bettet das Objekt auf ein Kissen aus Moos. Aus dem Grün sprießen kleine Gruppen von Pilzen. Wir befinden uns in einem Ausschnitt von Wald. Jemand hat eine rote Samtjacke vergessen. Wie nach einem Regenschauer, ist die harte, schimmernde Oberfläche des Objekts von Wassertropfen bedeckt. Eine kleine Lache fließt aus dem Moos und verweist auf das Speichern und Freigeben von Flüssigkeit. Im Moment des Fotografierens hat sich eine Fliege auf dem Objekt niedergelassen, hat die weiße Oberfläche als geeigneten Landeplatz erkannt. Wieder ist es die unaufgeregte Selbstverständlichkeit der Inszenierung, durch die das Bild einen Effekt erzielt. Die Fotografie reduziert in ihrer Nebeneinanderstellung zweier angeblich kontrastierender Kategorien die Trennung von Natürlichem und Künstlichkeit.
Bei der Betrachtung der sorgfältig choreografierten Bilder stolpert man über die Objekte, man bleibt an ihnen hängen. Sie können nicht entschlüsselt werden. Sie simulieren Funktion. Objekte der Begierde beschreiben die Beziehung zwischen Objekt und Betrachter*in. „Six Objects of Desire – a Symptom Story“ ist dabei, wie es der Untertitel vorschlägt, tatsächlich eine Geschichte von Symptomen: Die verantwortlichen Syndrome sind in der Intention des Künstlers zu suchen, in den Ideen, die zur Produktion von Objekten und Inszenierung führen. Syndrome finden sich außerdem in den Umständen der Entstehung der Objekte und Fotografien. Dabei sind die Kontexte und Bedingungen, unter denen beide hergestellt wurden, für die Wirkweise der Bilder zwar essenziell, für die Rezeption aber unerheblich: Das Publikum soll dezidiert dazu angeregt werden, Bezüge selbst herzustellen, eigene Verbindungen zu evozieren und sich nicht auf bekannte Prinzipien der Bilddeutung zu verlassen. Das Engagement der Rezipient*innen, ihre Interpretation der Bilder, können so als Symptome gelesen werden, als Auswirkungen verborgener Vorgänge. Idealerweise entstehen dabei neue Arten der Kunstbetrachtung.
In ihrem Bemühen, ausgetretene Pfade der Rezeption von Kunst zu verlassen, folgt die Arbeit keiner Verweigerungshaltung gegenüber Kunstdiskursen. Es wäre auch vergebens. Schließlich lässt sich alles, was sprachlich erfassbar ist, denken und somit diskursiv einbetten. Six Objects of Desire hofft auf den Erfolg des kleinsten Diskurses: den zwischen Bild und Betrachter*in.
© Georg Stanka |
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