Materialitäten erzählen

Unter Zahlen

von Georg Stanka

Die Uhr zeigt zehn nach sieben. Ich bin gerade aufgestanden und gehe in den Keller. Ich zähle die Stufen beim Gehen, obwohl ich weiß, wie oft meine Füße das Holz treffen. Neunmal rechts, ich beginne immer mit dem rechten Fuß, und neunmal links. Die fünfte Stufe knackt, der Abstand zwischen siebter und achter ist zu klein.
Im Keller hole ich ein Marmeladenglas aus dem Regal. Besser zwei. Einmal schwarze Johannisbeere, einmal Zwetschge, selbstgemacht. Wird Zeit, dass der Sommer kommt. Noch sieben Gläser Marmelade da. Vergangenes Jahr gab es kaum Früchte. Die Gläser sind von 2020.
Ich drehe die Regulierung des Toasters auf vier – vier heißt bei meinem Toaster nicht vier Minuten, sondern eher fünf. Vier bedeutet aber: richtig brauner Toast. Nicht gold-braun, sondern ein bisschen drüber, so wie ich es mag. Dann Butter drauf, dann Marmelade.
Frühstück, Badezimmer, Garderobe, alles in einer halben Stunde. Duschwassertemperaturregler zwischen 40 und 42. Gewicht heute 83,4 Kilo. Unterwäsche (Größe 5), Jeans (33/34), Socken, T-Shirt, Pullover.
Es ist April und eine kalte Woche. Meine Wände sind dünn. Das Thermostat der Heizung steht auf fünf, das reicht bei diesen Temperaturen gerade, um drinnen nicht zu frieren.
Noch nicht Mitte des Monats. Eine 13 auf dem Abreißkalender in der Küche. Ein weißes Blatt, nur eine Dreizehn und der Monat und Mittwoch. So etwas findet man kaum noch. Normalerweise: Grüße von Gott oder vom Mond oder kluge Sprüche.
Vor dem Haus stehen vier Autos. Das von Mohammed (MO 200), das von Florian und Katharina (FK 777), das von Udo (UP 110) und meins. Mein Auto hat noch ein halbes Jahr bis zum TÜV. Vielleicht komm ich nochmal durch. Muss aber eigentlich sein, ohne Auto geht’s nicht in der Kleinstadt.
Auf der Autobahn fahre ich hundert. Benzin ist zu teuer. Zeigt man mir eine 80, dann fahre ich 80, Bußgeld ist auch zu teuer. Und ich sollte Benzin sparen, beim Klimawandel ist es ja scheinbar schon fünf nach zwölf.
Ich muss trotzdem oft nach Berlin. Die A9 rauf und wieder runter, leichte Strecke. Bis ich mich an den Hauptstadtverkehr gewöhne, dauert es immer ein paar Tage. Öffentlich mit der M10 nach Mitte, U-Bahn, Bus und Tram nach Schöneberg.
Zwölf Uhr mittags. Ich zeichne ein bisschen. Auf dem Bleistift steht 2B. Nicht zu hart, nicht zu weich. Ich zeichne Drei Bananen und ein Glas. Ich beginne ein neues Buch. Lese bis Seite 27.
Ich tippe auf meinem Smartphone. Ist nach IEC Norm 60529 unter IP68 klassifiziert. Übersteht unter Wasser in einer Tiefe von 2 Metern bis zu 30 Minuten.
Ich rufe meine Mutter an. In ihrem Dorf sind die Telefonnummern dreistellig. 741. Die Nummern meiner Kindheitsfreund*innen weiß ich noch alle.
Ich brauche ein neues Regalbrett. Das Maßband sagt 63 Zentimetern. Das gibt es so nicht fertig. Muss ich im Baumarkt zurechtsägen lassen.
Außerdem brauche ich Knoblauch und Parmesan.
Schnell die paar Minuten zum Supermarkt gelaufen. „Bitte nicht mehr als 125 Kunden gleichzeitig in unserem Geschäft“. Geht. Kein Problem. Erste Abteilung Obst und Gemüse, zweite Abteilung Trockenware, dritte MoPro, Käsetheke, Fischtheke, Fleisch. Kasse vier schließt gerade, dafür öffnet Kasse zwei. Macht Fünfzweiundsiebzig. Geheimzahl bitte und bestätigen. Die Kassiererin trägt ein College-Shirt: New York 03/1985.
Zum Abendessen gibt‘s Spaghetti. Arrabiata. 125g Pasta pro Person. Trocken. Gekocht, werden das ziemlich genau 250g. Die Tomaten sind aus der Dose. 400g Abtropfgewicht. Dosen: beste Konservierung. Was einmal drin ist, hält für immer. Nudeln ins Wasser, Küchenwecker auf 13 Minuten. Lieber zu weich als al dente.
Nudelmenge verdoppeln, weil spontan Besuch kommt. Das Einzige, das sich angeblich automatisch verdoppelt, wenn man es teilt, ist das Glück.
Ich war mit der Schwester der Lotto-Fee befreundet. Sie liegt jetzt auf einem Waldfriedhof. Das machen viele so. Die Nummer, die an ihrem Baum hängt, ist ziemlich hoch.
Draußen wird es noch mal kälter, und es schneit. Drinnen 19 Grad auf dem Thermometer. Heizung höher drehen, Telefonieren, Sport, Yoga.
Es wird spät. Ich stelle den Wecker auf zehn, ich brauche acht Stunden Schlaf. Wann kommt der Frühling? Noch eine Woche?
Noch zwei?
 
 
 
© Georg Stanka
 

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