Materialitäten erzählen

Der Füller

von Jule Heidi Konrad


Definition:

Bei einem Füller handelt es sich um einen Stift (= Schreibgerät, das sich durch seine spezifische Form auszeichnet, dabei aber aus unterschiedlichen Materialen bestehen kann und altertümliche Schreibwerkzeuge, wie Federkiel oder Griffel, abgelöst hat, heutzutage Bestandteil des alltäglichen Gebrauchs), der mit Tinte (nicht unbedingt nur blau) schreibt, die am häufigsten in Form von Patronen nachgefüllt werden muss. Preislich zumeist teurer als Kugelschreiber oder Bleistift.

Der Füller zum zweiten

Tomasz konnte nicht begreifen, was genau ihn geritten hatte.
Nun gut: Zum einen war da die konkrete praktische Notlage. Die Post hatte geklingelt, ihm ein Paket entgegengehalten und um seine Unterschrift gebeten. Und auf dem kleinen Schränkchen im Flur, auf dem sich auch die Telefonanlage befand und die halb verwelkten Blumen in einer farblich unharmonischen Vase, die Adams Freundin Marina am Dienstag mitgebracht hatte, hat nun mal kein einziger Kugelschreiber gelegen, wie sonst üblich. Nicht einmal ein klitzekleiner Bleistift!
Und dann war es nun mal so, dass Adams Büro gleich neben dem Flurschränkchen lag und sein, Tomasz‘ eigenes, erst ganz hinten am Ende des Gangs. Und sicher war er auch ein wenig fahrig und nervös gewesen – der Postbote hatte auf ihn so ungeduldig gewirkt. Und so hatte er eben die ohnehin immer halb offene Tür zu Adams Büro ganz aufgestoßen und schnell nach dem nächstbesten Schreibgerät gegriffen, das ihm ins Auge fiel.
Und doch … war das natürlich nicht alles, gestand Tomasz sich ein, denn konnte er den schwarzgoldenen Füllfederhalter, der seit Jahren prominent und unangetastet auf einem dunkelblauen, samtenen Etui direkt neben der Schreibtischlampe ruhte, wirklich als das ‚nächstbeste‘ Schreibgerät bezeichnen? Zumal am anderen Tischende – wie immer – ein unansehnlicher, bunter Plastikbecher, vollgestopft mit Bleistiften, Textmarkern, Buntstiften und Kugelschreibern stand?
Nein, gab Tomasz – vor sich selbst, wenn schon nicht vor Adam – widerwillig zu: Es war natürlich auch der Rausch des Verbotenen in seiner Handlung involviert gewesen. Etwas von jenem abenteuerlichen Gefühl, das Eva im Garten Eden beschwipst haben musste, als die Schlange ihr die Vorstellung in den Kopf gepflanzt hatte, vom Baum der Erkenntnis zu essen…
Natürlich hatte ‚sein‘ Adam kein Verständnis für sein Verhalten gehabt. Und hier, an diesem Punkt wurde es aber tatsächlich für Tomasz selbst etwas unverständlich: Er hätte ja, nachdem er also mit Adams schwarzgoldenem, dekorativem, nie verwendetem Füllfederhalter eine Unterschrift für den Postboten gekritzelt hatte, sein Vergehen fein säuberlich vor seinem Mitbewohner vertuschen können. Adam hätte es ja nie zu erfahren brauchen. Stattdessen hatte Tomasz aber das corpus delicti – war er denn sonst auch so nachlässig?, wohl kaum! – mit offener Kappe völlig deplatziert auf Adams Schreibtisch zurückgelegt und dabei noch einen Tropfen Tinte auf ein zuvor weißes Druckerpapier gekleckst. Es musste sich dabei wohl um einen spontanen Anfall von wildem Rebellionsgeist bei ihm gehandelt haben. Jedenfalls hatte Adam so natürlich alles bemerkt.
Und keinerlei Verständnis gezeigt.
Egal, wie oft er zu seiner Verteidigung ausrief: „Es ist doch bloß ein Füller!“ Und die Logik als Verbündete an seiner Seite rief: „Wozu ist er denn da, wenn nicht, um ihn zu benutzen?“
Adam erinnerte ihn nur immer wieder vorwurfsvoll, dass der Füller ein so teures und herausragendes Geschenk seines Professors zu seiner erfolgreichen Promotion – die längst einige Jährchen zurücklag – gewesen war. „Du verstehst das eben nicht“, beschuldigte er Tomasz immer wieder.
Und ja, dachte Tomasz, während er sich gründlich über Adam ärgerte, vielleicht verstanden sie sich wirklich nicht mehr. Im Grunde nämlich, nervte ihn das Gewese, das Adam in Bezug auf den Füller und überhaupt auf seine glorreiche akademische Vergangenheit machte, schon lange. Er selbst hatte schließlich auch einmal studiert, hatte sich nur früher als Adam der Realität, beziehungsweise Rarität, akademischer Stellen ausgesetzt und war arbeiten gegangen…, während Adam gerade wieder einmal arbeitslos war und Tomasz ihm erst letzten Monat deshalb finanziell hatte aushelfen müssen.
Und dennoch: So gegensätzlich sie auch sein mochten, waren sie als Mitbewohner die letzten sechs Jahre reibungslos ausgekommen. Es hatte nicht einen einzigen Streit gegeben. Und nun das! Und alles wegen eines Füllers…
 
 
 
© Jule Heidi Konrad
 

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