Materialitäten erzählen

Silvester bei Familie Kramer: Aus der Sicht eines Kronleuchters und eines Tischbeins

von Jule Heidi Konrad


Der Kronleuchter

Dass ich gealtert bin, das merke ich nur daran, dass die Köpfe, auf die ich tagtäglich in den Abendstunden mein Licht werfe, nicht mehr blond schimmern, sondern weißgrau. Auch das Gesicht, das sich mir zuwendet, wann immer meine Glühbirnen gewechselt werden müssen, ist inzwischen von tiefen Falten durchzogen. Das ist übrigens so ziemlich die einzige Gelegenheit, bei der ich viel von den Gesichtern der Familie, deren Mahlzeiten ich seit geraumer Zeit illuminiere, zu sehen bekomme.
Dafür weiß ich besser als jeder andere, was hier auf den Tisch kommt, kenne die Hände, von denen er gedeckt wird, so gut, dass mir lange gar nicht auffiel, wie sehr auch sie sich mit der Zeit veränderten.
Und die Stimmen. Natürlich könnte ich auch viel von den Stimmen und den Gesprächen der Menschen berichten, die hier regelmäßig unter meinem Licht zusammenkommen.
Doch auch ohne auf die Worte meiner Besitzer zu achten, hätte ich gewusst, dass heute Silvester ist. Immerhin hat die Hausherrin bereits gestern in den Abendstunden, von mir beschirmt, Sektgläser poliert. Bedächtig und gründlich, und am Ende hat sie mir jedes Glas einzeln noch einmal entgegen gehoben, wie, um mir einen Prost auszubringen, mit einem prüfenden Blick, um sie anschließend zufrieden wieder aufzuräumen.
Und dann ist natürlich auch bereits gestern die weiter entfernte Familie angereist.
Ich freue mich schon auf das Pling, wenn alle miteinander anstoßen!

Das Tischbein

Das Kind kann nicht warten. Es hat schon wieder ein Stück Butterbrot fallen lassen. Während die meisten erwachsenen Stimmen nur gedämpft bis zu mir herunter dringen, weil alle noch stehen und plaudern, hat das Kind schon zu essen begonnen. Die kleinen Beine wippen fröhlich zum Takt seines geräuschvollen Schmausens. Und noch ein Stück Butterbrot segelt an seinem grün bestrumpften Füßchen vorbei. Es landet genau auf dem Tischbein gegenüber. Gott sei Dank hat es nicht mich getroffen. Auch unter der Bank sind gestern schon einige Kuchenbrösel gelandet, die denen oberhalb der Tischkante wohl entgangen sind. Hm. Vielleicht holt sich die Katze alle, wenn sie sich wieder einmal unter der Bank versteckt. Es ist schon ein Weilchen her, dass ich sie zuletzt gesehen habe. Ich hoffe, sie ist nicht gestorben. Ich mochte sie.
Der Fuß des Großvaters versetzt mir einen ganz leichten Stoß, während er Kreise in die Luft malt, aber das geht in Ordnung. Wir teilen uns so lange schon diesen Platz, wir sind vollkommen aneinander gewöhnt. Und wenn ich mir das butterverschmierte Tischbein gegenüber so anschaue, dann bin ich ganz froh, dass ich nicht an der Eckbank stehe, sondern vor dem Stuhl des Großvaters.
Manchmal gibt es – abends vor allem – ein bisschen Geruckel und Gekeile mit den Stuhlbeinen, wenn der Großvater sehr häufig aufsteht – er wird wohl etwas holen… Es klingt immer so, als ob er etwas auf meinem Dach abstellt, wenn er zurückkommt; was, konnte ich aber noch nicht herausfinden. Aber alles in allem, geht er sehr pfleglich mit mir, seinem nächstgelegenen Tischbein, um – das muss ich schon sagen.

Der Kronleuchter

Gläserklirren und schön hergerichtete Platten mit Flammkuchen. Das ist meine Welt. Und gerne beobachte ich die Hausherrin dabei, wie sie den Flammkuchen ganz zuletzt mit einer anmutigen Bewegung ihrer noch immer schlanken Hände mit etwas Schnittlauch bestreut. Das kleine Kind, der Urenkel, klatscht freudig, auch er freut sich über den Anblick.
Ich hänge über einem eigentlich recht kleinen Tisch aus dunklem Holz. Eine Eckbank und zwei bis drei Stühle reichen der Familie, um sich um ihn herum zu gruppieren. Manchmal speist nur das alte Ehepaar gemeinsam hier, manchmal kommen noch Freunde hinzu, früher waren es die drei Töchter, die immer auf der Bank Platz nahmen. Eine von ihnen, die jüngste, glaube ich, hat inzwischen selbst zwei Töchter und einen Enkel sogar. Sie kommen recht häufig zu Besuch, und ich beobachte sie besonders gerne. Der Einjährige sitzt nicht lange still, er wandert die Bank entlang, aber seine Urgroßeltern beobachten ihn mit Freude, das spüre ich, auch wenn ich ihre Gesichter nicht sehen kann.
Manchmal werden nun – zusätzlich zum Essen – auch Spielsachen über den Tisch gereicht. Bunte Bälle, Legosteine, eine Spieluhr, die das Kind besonders liebt. Und manchmal blättert jemand mit dem Kleinen auf dem Schoß in einem Bilderbuch und ich kann – von oben – heimlich mitlesen.
Das Kind ist so blond, wie seine Urgroßeltern es früher einmal waren.

Das Tischbein

Ich vermisse die Katze. Sie hatte dieses Spiel – gewitzt und raffiniert, wie Katzen nun einmal sind: Auf leisen Pfoten kam sie angeschlichen, strich elegant an uns vorbei und bezog dann Stellung im hintersten Winkel unter der Eckbank. Nach und nach begann die Familie immer nach ihr zu rufen: „Luna! Luna!“
Luna rührte sich selbstverständlich nicht. Sie harrte geduldig aus in ihrem allerliebsten Versteck, nur ihr schwarzer Schwanz peitschte gelegentlich ungeduldig – oder vielleicht warnend – auf den Teppich unter ihr. Und dann hatte man sie natürlich gefunden, das obligatorische Fauchen. Und darauffolgend: ein großes Theater, sie wieder unter dem Tisch hervorzulocken!
Unter den Tisch krabbeln, sie anstupsen und herausjagen: Keine gute Idee, denn Luna fühlte sich offenbar sicher und wehrhaft in ihrer überlegenen Verteidigungsposition. Sie mit einem Gegenstand aus ihrem Versteck stupsen? – Führte immer zu wildem Fauchen und einem spektakulären Kampf der schwarzen Pantherin gegen besagten Gegenstand. Sie mit Essen hervorlocken? Eine Geduldsprobe, aber manchmal erfolgreich – insbesondere bei Angebot ihres Lieblingsgerichts: Sheba-Katzenfutter mit Thunfisch.
Ach, wäre ich ein Mensch und kein Tischbein, ich hätte das Spektakel wohl schmunzelnd verfolgt!
Wie gesagt, hoffe ich auch so, dass Luna nicht gestorben ist und bald einmal wieder vorbeikommt. Überleben werde ich sie aber wahrscheinlich so oder so.
 
 
 
© Jule Heidi Konrad
 

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