Materialitäten erzählen

Das neue Leben

von Xiuyu Dai

Wie ich Ihn so dasitzen sehe. Mit gläsernem Blick über den Küchentisch geneigt, mit geradem Blick aus dem Fenster. Ohne etwas zu betrachten oder wahrzunehmen. Oder ist ihm aufgefallen, dass er die Gartenarbeit noch nicht erledigt hat? Eigentlich hat er früher schon immer so dagesessen. Eigentlich jeden Sonntag. Er wollte am Sonntag noch nie etwas unternehmen. „Sonntag ist Ruhetag“, pflegte er immer zu sagten. Das sagt er jetzt nicht mehr. Er sitzt nur noch da. Vor vielen Jahren, als wir uns kennenlernten, da wollte er schon immer am Sonntag nur zu Hause bleiben. Schließlich war er ja die ganze Woche unterwegs, und nur am Sonntag konnten wir zusammen zu Hause Zeit miteinander verbringen. Nach dem Frühstück saßen wir immer den ganzen Vormittag in der Küche. Er erzählte immer so gerne von seiner Arbeit. Wie dämlich seine Kolleg*innen sind, oder was seine Filialen in Rio oder Singapur denn alles besser oder schlechter machten, und was seine Geschäftspartner*innen doch für unangenehme Menschen seien. „Alle Menschen sind gleich geizig“, sagte er immer. So etwas sagt er heute nicht mehr. Über Menschen dürfen sie nicht schlecht reden, ein neues Feature, sagten die Ärzt*innen. Unterwegs war er jetzt auch schon lange nicht mehr, eigentlich seit jenem Tag nicht mehr. Wenn ich darüber nachdenke, schon ein bisschen gruselig, wie er dasitzt. So kalt. Generell hat er mir noch nie geholfen, gefragt, ob ich Hilfe brauche, mit den Kindern oder im Allgemeinen. Einen Monat habe ich damals gewartet, bis mir die Ärzt*innen überhaupt Auskunft gegeben haben. Sie meinten, ich würde keinen Unterschied merken. Die moderne Technik könne heute alles heilen. Er sagt mir noch jeden Tag, wie sehr er mich liebt, und schwelgt in unseren alten Erinnerungen. Er kann sich an alles erinnern, geht die gleichen Hobbies nach und hat auch die gleichen schlechten Angewohnheiten. Immer muss ich Ihm seine schmutzige Kaffeetasse hinterherräumen. Er erzählt immer von unseren alten Geschichten, als die Kinder noch klein waren, oder von unserem Tanzkurs. Am liebsten erzählt er von unserem zweiten Date, weil er sich da in mich verliebte. Mein rotes Kleid sei so schön gewesen. Er hat schon immer gerne in Erinnerungen geschwelgt. Nur jetzt ist er damit pünktlicher. Jeden Tag um 09.05 Uhr gesteht er seine Liebe. Aus tiefstem Herzen und mit wahren Gefühlen, wie mir die Ärzt*innen versicherten. Um 11:17 Uhr dann die Geschichte, als er mit unseren beiden Jungs ein Baumhaus baute. Immer mit einer Träne im linken Auge. Wie sehr war ich nur immer in sein Auge vernarrt. An diesem hellgrünen Schimmern konnte ich mich nie sattsehen. Heute kann ich Ihm nicht mehr in die Augen schauen. Mir läuft es kalt den Rücken herunter, wenn er mich mit seinem leeren Blick anschaut. „Was ist los, Schatz? Fühlst du dich nicht gut?“ Am liebsten würde ich einfach weg. Weit, weit weg. Aber wohin? Ich habe doch nur noch Ihn. Sie sind schon alle lange fort.
 
 
 
© Xiuyu Dai
 

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