Materialitäten erzählen

Bares für Rares?

von Alina Sophie Detzel

Es war gerade einmal 9 Uhr, und die Sonne besaß schon eine derartige Wärme, dass sie froh war, doch noch einen Sonnenhut mitgebracht zu haben. Elli war überhaupt eine Person, die gerne auf alles vorbereitet war und damit die Menschen in ihrem Umfeld auch mal regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Genauso war es auch, als sie ihre Mutter beinahe eine Stunde lang mit Fragen zu dem Gemälde löcherte, das sie heute an diesem sonnigen Samstag im Juli auf dem Flohmarkt verkaufen wollte. „Ach das?“, fragte ihre Mutter beinahe beiläufig, als sie zusammen all die Dinge durchgingen, die ihre Eltern für Ellis Stand großzügigerweise mit bereitstellten.
Elli war das Gemälde beim Besuch ihrer Eltern immer mal wieder ins Auge gestochen. Sie fand es wunderschön, und irgendwas im Blick dieser Frau auf dem Bild zog sie jedes Mal in den Bann. „Du weißt doch, dass wir das Haus neu renovieren, Schatz. Da passt das nicht wirklich mehr rein. Aber nimm es gerne mit, vielleicht bereitet es jemandem viel Freude.“ Elli gefiel das Bild, aber die Vorstellung, jemanden mit strahlenden Augen das Gemälde zu überreichen, sagte ihr überraschenderweise mehr zu, als es selbst zu behalten. ,,Erzähl mir was darüber“, bat sie ihre Mutter mit eindringlicher Stimme. „Weißt du, woher es stammt?“ Ein lautes Seufzen konnte ihre Mutter nicht unterdrücken. Denn sie kannte Elli und ihren unermesslichen Drang, alles zu wissen. Deshalb ließ sie auch für die nächsten 50 Minuten nicht locker, bis sie jedes einzelne Detail über dieses Gemälde kannte. Denn schließlich wollte sie für den Fall eine beeindruckende Hintergrundgeschichte bereithalten, die den potenziellen Käufer begeistern würde.
„Wie du vielleicht weißt, hat uns der ehemalige Besitzer dieses Hauses viele Sachen hinterlassen, aus denen wir uns jede Menge aussuchen konnten“, begann ihre Mutter also. Daran erinnerte sich Elli noch genau: Das schier endlose Chaos im Haus, in das sich ihre Eltern vor ein paar Jahren verliebt haben. Der Sohn verkaufte das Haus, als sein Vater im Altenheim gestorben war. Außer ein paar Wertsachen ließ er das meiste einfach zurück. „Ich habe damals dieses Bild gesehen und fand es wirklich schön“, fuhr ihre Mutter fort. „Ich weiß nichts über das Gemälde. Aber als ich die Zeilen auf der Rückseite las, wusste ich, dass ich es behalten werde.“
„Zeilen?“, fragte Elli verwundert. Davon wusste sie nichts. Sie drehte das Bild um und blickte nur auf die leere Rückseite des Rahmens. Vorsichtig nahm ihre Mutter ihr es aus der Hand und löste den Rahmen Stück für Stück. Da sah Elli auch die Nachricht, von der ihre Mutter gesprochen hatte: „Pour ma petite et fidele Georgette. 1934.“ „Georgette war die Frau dieses Hausbesitzers“, erklärte ihre Mutter, als sie Ellis verwunderte Mine sah. „Der Sohn hat uns erzählt, dass sich seine Eltern in Frankreich kennengelernt hatten. Sie war Französin, und er Militärarzt. Ich nehme an, das war ein Geschenk an seine Liebste.“
Elli betrachtete die Zeilen genauer. „Wie schön“, dachte sie. „Und wie traurig, dass etwas so Bedeutungsvolles und Einzigartiges zurückbleibt“. „Wieso sollte er das Bild seiner Mutter einfach so hierlassen?“, sprach Elli ihre Gedanken laut aus. Von ihrer Mutter kam nur Schulterzucken: „Ich weiß es nicht. Das werden wir wohl nie erfahren.“ Die beiden blickten für einen Moment gedankenverloren auf die schöne Frau mit den funkelnden Augen. Sie unterhielten sich an diesem Nachmittag noch lange, und auch nachts noch lag Elli im Bett, und ihre Gedanken
kreisten immer wieder um das Gemälde. Jahrelang hing es an der Wand ihrer Eltern und schmückte das Wohnzimmer. „Wo es vorher wohl in diesem Haus hing?“ Elli konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie das Bild früher Teil dieser Familie war. Wie es Georgette vielleicht mit Gluck erfüllte, jedes Mal, wenn sie es ansah. Und mit Dankbarkeit, weil ihr Mann ihr ein so außergewöhnliches und einzigartiges Geschenk machte. „Wie verrückt“, das waren die Worte, die Elli immer wieder durch den Kopf spukten. „Wie verrückt, dass dieses Gemälde plötzlich nur noch Dekoration war. Nur noch ein Gemälde.“ Schließlich war es ja ein und dasselbe Gemälde. Und jetzt sollte es verkauft werden und jemandem hoffentlich genauso viel Freude bereiten, wie ihrer Mutter, die dieses Bild nur mit größtem Wohlwollen aus den Händen gibt, wie sie beteuerte.
Elli blickte auf die Uhr: 9:54 Uhr. Langsam kam immer mehr Leben auf den Platz, und pünktlich zu Beginn fingen die ersten Besucher an zu den Ständen zu strömen. Die Sonne wurde mit jeder Stunde wärmer, aber Elli hatte zum Glück ihren Sonnenhut, mit dem sie entspannt und voller Vorfreude auf ihrem Klappstuhl saß und interessiert die vorbeilaufenden Menschen betrachtete. Neben dem Gemälde waren allerlei Dinge auf dem Tisch vor ihr verteilt: alte Kassetten und Schallplatten von ihrem Vater, Schmuck von ihrer Mutter. Elli selbst hatte auch noch einige Bücher mit aufgestellt, von denen einige fast neuwertig, andere schon ziemlich zerlesen waren. Der Rest war wild durcheinandergewürfelt, und Elli war sich sicher, dass heute einige Dinge einen neuen Besitzer finden würden.
Ein Mann mittleren Alters kam auf Ellis Stand zu und betrachtete neugierig die Auswahl, als sein Blick auf das Gemälde fiel. „Genau so etwas habe ich gesucht!“, strahlte er und zeigte mit dem Finger auf Georgettes Bild. Elli konnte nicht anders als sein Lächeln zu erwidern, als sie sah, wie begeistert er war. „Meine Frau ist verrückt nach alten Gemälden. Sie redet von nichts anderem mehr, seitdem sie in einer Zeitschrift den Vintage-Einrichtungsstil entdeckt hat“, fuhr er fort und blickte sich anschließend etwas hektisch nach links und rechts um. „Dann wird ihr das Bild bestimmt gefallen“, lachte Elli. „Sie ist noch hinten bei einem anderen Stand“, erklärte der Mann. „Es soll aber eine Überraschung sein. Ich nehme es“, sagte er grinsend und nach einigem Hin und Her, was den Preis betrifft, stürmte der Mann mit strahlender Mine und dem Gemälde in einem Beutel davon. Zufrieden steckte Elli das Geld in ihren Geldbeutel, etwas wehmütig, die wundervolle Geschichte zu dem Gemälde gar nicht erzählt haben zu können.
 
 
 
© Alina Sophie Detzel
 

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