Materialitäten erzählen

GLASS 03/22

von Georg Stanka

 





Objektmusiken: Komponieren mit Gegenständen des Alltags


In Paris Ende der 1940er-Jahre eröffnet der französische Komponist Pierre Schaeffer den Techniken der Musik-Komposition und -Wiedergabe neue Welten. Er fühlt sich durch die klassische Notation – das Festhalten von musikalischen Entwürfen mithilfe eines konkret definierten Zeichensystems – in der Freiheit seines Schaffens eingeschränkt. Auch die Reproduktion von Notenschrift durch speziell ausgebildete Musiker*innen und das spezifische Klangspektrum ihrer Instrumente limitieren sein Bedürfnis nach einer möglichst unmittelbaren
Auseinandersetzung mit seinem akustischen Umfeld. Also erweitert er den Kosmos des zur Entwicklung seiner Musik verfügbaren Tonmaterials, indem er als Quelle eines musikalisch verwertbaren Geräusches jeden Klangkörper akzeptiert, dessen akustische Schwingung er analog aufnehmen kann. Als Instrument gelten ihm nun nicht mehr nur eigens zum Zweck der Musikerzeugung hergestellte Gegenstände wie Flöten, Violinen oder Klaviere, sondern grundsätzlich jede Art von klingendem Objekt. Die Aufnahmen – erst auf Schallplatten, später auf Tonbändern – manipuliert Schaeffer durch das Verändern ihrer Wiedergabegeschwindigkeit,
durch das wiederholte Abspielen einzelner Abschnitte in Schleifen und später durch das Fragmentieren der festgehaltenen Klänge durch Zerschneiden und neu Zusammensetzen des Tonbandmaterials. Protagonist*in der so entstehenden Musik, der musique concrète, kann dabei prinzipiell alles sein: Eine Dampflokomotive, ein Schuh, ein Luftballon.
Damit ist der Grundstein für eine akustische Revolution gelegt. Musiker*innen und Komponist*innen wie Karlheinz Stockhausen und Daphne Oram entwickeln die Objektmusik – also Musik auf der Klang-Basis von Gegenständen – weiter. Sie überführen sie in ihren Werken sowohl in die Sphären großer Konzerthäuser als auch in die der Unterhaltungsmusik, verarbeiten die Geräusche der Welt zu Opern und Soundtracks. Einige Jahrzehnte später schließlich übernehmen Künstler*innen wie Brian Eno, Jean-Michelle Jarre oder die Band Kraftwerk Techniken der Pioniere elektro-akustischer Komposition. So halten Objekte als Tonquellen
Einzug in die Pop-Musik, in die Untermalung von Filmen und Werbespots, kurz:  in unseren Alltag, wo sie bis heute einen festen Platz behaupten. Dabei nehmen Publikum und Konsument*innen die akustischen Signale von Objekten in der Regel wahr, ohne sich über Ursprung und Entstehung der Klänge bewusst zu sein.
Für Komponist*innen bedeutet die Beschäftigung mit Gegenständen als Klangkörper im eigenen Werk auch eine bewusste Entscheidung gegen das Verwenden von klassischen Instrumenten. Der (teilweise oder absolute) Verzicht auf bewährte Werkzeuge verlangt von Künstler*innen eigene, innovative Arbeitsmethoden und Erfinder*innengeist in der persönlichen Auseinandersetzung mit dem gewählten Material.
Für ihr Album Our Lady of Late – Music for Solo Voice and Wine Glass aus dem Jahr 1973 wählt die US-amerikanische Komponistin und Choreographin Meredith Monk Wege der Reduktion und Konzentration. Als Tonquellen für achtzehn kurze Stücke beschränkt sich die Künstlerin auf Klänge, deren Erzeugung ihr mit einem einzelnen Weinglas sowie mit der eigenen Stimme möglich ist. In einem Prolog fokussiert sie sich auf das Glas als Klangkörper: Durch rhythmisches Anschlagen wird das Weinglas zum Perkussionsinstrument.
Das virtuose Spiel lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Aufnahme dezidiert um ein Kunstprodukt handelt, erzeugt von einer ausgebildeten Musikerin. Die Komposition enthält darüber hinaus aber eben auch klar erkennbar jenen Klang, der entsteht, wenn Metall (z. B. Besteck) gegen ein Weinglas geschlagen wird. Ein Ton, der aus vollkommen anderem Kontext – nämlich dem Ankündigen einer Tischrede – vertraut ist.
Monk verzichtet in ihrer Arbeit auf das Manipulieren des Tonmaterials. Über weite Teile des Albums konzentriert sie sich auf die unmittelbare, haptische Begegnung von Körper und Gegenstand: Auf den hellen Klang, der entsteht, wenn mit dem feuchten Finger, mit leichtem, gleichmäßigem Druck, über den Rand eines Weinglases gefahren wird. Zu diesem Klang setzt Meredith Monk ihre eigene Stimme, die zweite Komponente dieser Arbeit, in Beziehung. Singend, seufzend, meckernd und atmend, in der Wiederholung und Brechung kurzer, einfacher
Motive, geht sie in Resonanz mit den Tonfrequenzen des Glases, imitiert sie mitunter. Das Ergebnis ist ein akustischer Austausch zwischen Objekt und Mensch, ein Zusammenspiel, das gleichzeitig die Verwandtschaft der Schwingungspotenziale wie auch deren Grenzen hörbar macht: Der Akteur in den Duetten von Glas und Stimme, der aktivere, flexiblere Part, ist der Mensch. Der Beitrag des Materials, der Grundton, der die Stücke durchzieht, erhält seinen
musikalischen Reiz erst durch die Reaktion der Künstlerin.
Monks Our Lady of Late beschreibt die Reibung der Frequenzen von Menschlichem und Materiellem. Die reduzierte Auseinandersetzung mit einem einzigen Material in einer spezifischen, dem Alltagskontext entnommenen Form, gleicht einer Meditation über das Verhältnis von Mensch und Objekt, über die Wirkung der eigenen Kreativität in der Kommunikation mit den Potenzialen des Materials.
Das frühe 21. Jahrhundert beschert der Objektmusik durch die fortschreitende Verbreitung digitaler Musikproduktions- und Sample-Techniken ein Hoch. Auf den akustischen Eigenschaften von Dingen basierende Produktionsverfahren beschränken sich nicht mehr vornehmlich auf das Feld Experimenteller Musik, sondern durchdringen endgültig die Klangwelten des Pop, prägen den Markt der Film- und der kommerziellen Musik.
Seit einigen Jahren stehen im Zentrum der zeitgenössischen Objektmusik vor allem der britische Komponist und Musiker Matthew Herbert und das US-amerikanisch-deutsche Duo Matmos. Die drei Künstler oszillieren in ihren Werken zwischen Experimenteller- und Pop-Musik, verwischen Genre-Grenzen und beweisen so die Flexibilität des mit Gegenständen erzeugten Klangmaterials.
Matthew Herbert betreibt das Sammeln von Geräuschen exzessiv. Für One Pig, ein Projekt aus dem Jahr 2009, begleitet Herbert mit seinen Aufnahmegeräten ein Mastschwein von der Aufzucht über die Schlachtung bis zum Verspeist-Werden. Das Resultat der akustischen Dokumentation – Aufnahmen des Ratterns der Fütterungsmaschinen, des Klapperns von Tellern und Besteck – ordnet er in ein umfangreiches Klang-Archiv, auf das er beim Komponieren des finalen Produktes zurückgreift. Die künstlerische Leistung des Projekts liegt vor allem auf einer Ebene der Zeitverdichtung: Geräuschmaterial, dessen Gewinnung sich über den Zeitraum eines Schweinelebens (ungefähr ein Dreivierteljahr) erstreckt, wird im Albumformat, in neun, durch ihre Namensgebung dem jeweiligen Lebensmonat des Schweins zugeordnete, Stücke unterteilt und auf die Hördauer von gut 43 Minuten kondensiert.
Dass diese äußerst konzeptionelle Herangehensweise nicht nur im Kontext experimenteller Komposition funktioniert, beweist Herbert, als er gemeinsam mit der irischen Avantgarde-Pop-Sängerin Roisin Murphy deren Solo-Debut Ruby Blue produziert. Vor allem die Perkussion der darauf enthaltenen Stücke entsteht aus manipulierten Tonaufnahmen persönlicher Gegenstände wie Weckern oder Kosmetikartikeln, die Murphy in Herberts Studio bringt, sowie aus bearbeiteten Stimm-Samples der Sängerin. Erschienen im Jahr 2005, verdankt Ruby Blue seine besondere Ästhetik dem Klangkosmos der Produktionstechnik Matthew Herberts, der das Album musikalisch im direkten Objektumfeld der Sängerin verankert.
Im Werk von M. C. Schmidt und Drew Daniel, den Mitgliedern der Band Matmos, finden sich Alben, die je ausschließlich aus den Geräuschen einer Waschmaschine, diverser Kunststoffe oder eines Operationsvorgangs bestehen. Das Duo beschert der Objektmusik die bislang wohl größte Bühne: Im Jahr 2001 begleiten die beiden Künstler die isländische Musikerin Björk auf der Welttournee zu ihrem Studioalbum Vespertine. Als Teil des Bühnenensembles zeichnen sie unter anderem für die elektronische Perkussion verantwortlich, deren Elemente sie live aufnehmen, digital verfremden und unmittelbar wiedergeben. Als Klangquelle dient ihnen etwa das Knistern ihrer elektrostatisch aufgeladenen Polyester-Hemden. Die in ihrer Materialität nahezu wertlosen Kleidungsstücke transferieren die Künstler von der Kleiderstange in ihr Instrumentenarsenal und dann unter anderem auf die Bretter des Londoner Royal Opera House.

GLASS 03/22

Das Ergebnis meiner eigenen Auseinandersetzung mit Objekten als Tonquellen der Musikkomposition ist das Stück GLASS 03/22. Der elektro-akustische Track entsteht im Laufe einer kalten März-Woche des Jahres 2022. Grundlage des verwendeten Tonmaterials ist die Aufnahme einer zehnminütigen Auseinandersetzung mit den klanglichen Potenzialen zweier Weingläser. Zur Geräuscherzeugung werden sie möglichst variantenreich gegeneinander und
ineinander bewegt sowie mit dem eigenen Körper, genauer: mit dem Fingernagel und der feuchten Fingerkuppe, stimuliert. Selbst ein zeitlich stark begrenztes Eingehen auf die Eigenschaften von Material ermöglicht dabei eine erstaunliche Vielfalt an Klangoptionen.
Die Aufnahmen werden nach Qualitäten wie Tonhöhe, Tonlänge oder Schwingungs-Intensität sortiert und bilden ein kleines Repertoire an Kompositionsmaterial. Verwendet werden sowohl digital unbearbeitete Aufnahmen als auch massiv manipulierte Klänge. Durch das Manipulieren bereits veränderter Geräusche, zum Beispiel durch das Zerschneiden der digitalen Tonspur in
kleinste Elemente, entfernen sich die Klänge der Gläser zunehmend von ihrer ursprünglichen Laut-Erscheinung.
GLASS 03/22 hat eine Dauer von 7:51 Minuten und ist in sechs miteinander verbundene Abschnitte strukturiert. Die einzelnen Abschnitte beziehen sich durch musikalische Motive und die Eigenschaften des ihnen zugrunde liegenden Tonmaterials aufeinander. Außerdem folgen die Sequenzen des Stücks chronologisch, das heißt, sie sind in derselben Reihenfolge zu hören, in der sie entstanden sind.
Der erste Abschnitt stellt das Material der Weingläser als Protagonisten, als Tonquelle und Instrument vor. Die beiden Gegenstände kratzen und stoßen gegeneinander und erzeugen Klänge, die, lediglich in ihrer Tonhöhe verändert und einander teilweise überlagernd, reproduziert werden. Das Schwingen des Glases ist dabei deutlich hörbar. Was jedoch nicht zu hören ist, ist der Umstand der Tonerzeugung: Die Gläser klingen nicht von selbst. Als unbelebte Dinge
müssen sie durch Fremdeinwirkung zum Tönen gebracht werden. Hier wird deutlich, dass jede Art des Musizierens auf Gegenständen mit der Provokation von Materiellem beginnt: Mit einem Kratzen, Schlagen, Zupfen oder Zerren an Objekten oder Teilen von Objekten. Im ersten Abschnitt der Komposition erfolgt eine Kontaktaufnahme: Der Dialog mit den klanglichen Qualitäten der Gegenstände beginnt.
Im zweiten Abschnitt wird die Looping-Technik (also das Wiederholen eines kurzen Motivs), die, neben den Eigenschaften der Glas-Klänge, den Charakter des Stücks prägt, eingeführt. Die Glas-Töne werden zu einer Art Glockenspiel arrangiert, das sich im Laufe des dritten Teils von GLASS 03/22 rhythmisch zu Instrumentalem Pop steigert. Als einzige Elemente der gesamten Komposition, die nicht aus den Klängen von Glas und Stimme bestehen, werden hier die Aufnahme eines Tamburins und ein gesampelter Beat eingeführt.
Im vierten Abschnitt steht die Stimme im Vordergrund: Ein einzelner, im Sprechgesang aufgenommener Satz wird in Silben zerhackt und neu zusammengefügt. Dabei werden die Stimmsequenzen durch Stückelung und Schichtung ähnlich behandelt wie vorher die Aufnahmen der Weingläser. Dieser Teil mündet in einem Zusammenspiel der Stimme mit einem Motiv aus stark verfremdeten Glas-Tönen. Mit jedem Abschnitt wird nun die fortschreitende Manipulation des Ausgangsmaterials deutlicher.
Eine mehrsekündige Aufnahmesequenz des mit dem Finger zum Schwingen gebrachten Glases wird im fünften Teil mit sich selbst zu Harmonien geschichtet. Die organisch klingende Glasschwingung erzeugt dabei Töne, die an eine futuristische Orgel denken lassen.
Der sechste und letzte Abschnitt stellt den Entwurf eines Pop-Songs vor. Er basiert auf einem einzelnen, in zwei verschiedenen Höhen reproduzierten und im Loop wiederholten Ton der Gläser. Alle Elemente der Komposition – manipulierte und unveränderte Glasklänge, bearbeitete und unbearbeitete Stimmaufnahmen, Text, und, als zusätzliche Elemente, die Aufnahmen des Tamburins und der gesampelte Beat – kommen zu einem Finale zusammen.
Die besondere Qualität des Glas-Klanges durchzieht die gesamte Komposition. Dabei können Töne, die mit Objekten, anstelle klassischer Instrumente, erzeugt werden, einen ,unsauberen Charakter‘ haben. Sie wirken wie an den Rändern ausgefranst, verschwommen und unklar. Karlheinz Stockhausen spricht bei der Typisierung von Klängen auch von ,Timbres‘ – Klangfarben, die spezifische Qualitäten von Tönen bezeichnen. Das Timbre von Material, das dem Klang von Objekten entstammt, ist dabei eigenwillig. Anders als synthetische Klänge, die durch gezielte Erzeugung bestimmter Frequenzen entstehen, konfrontieren Tonaufnahmen von Dingen Komponierende mit akustischen Widerständen. In diesen Widerständen aber macht sich der Charakter der Objekte – das Material selbst – erst wirklich bemerkbar. So trifft die Persönlichkeit der Dinge auf die der Musiker*innen. Eine Begegnung, die der britische Künstler Cosmo Sheldrake als ,interaktiven‘ Prozess und in der Konsequenz als Kollaboration bezeichnet.
Während des Arrangierens geben der natürliche Rhythmus und die komplexen Frequenzen von Objekt-Klängen vor, wie die Töne in der Komposition ,fallen‘, was sie an Harmonien, Geschwindigkeiten etc. zulassen. Objektmusik ist somit Musik mit speziellen Texturen. Diese Texturen werden maßgeblich durch die Materialität, die physische Qualität des Aufnahmegeräts beeinflusst. Das Timbre eines Geräuschs wird mittels eines Mikrofons eingefangen, welches, abhängig von seiner Präzision, zur Beschaffenheit der Ton-Textur beiträgt. Zugespitzt wird dies in Stockhausens Werken Mikrophonie I & II (1964/1965), für die der Prozess der Mikrofon-Aufnahme selbst komponiert und in denen ein Richtungs-Mikrofon zum eigentlichen Instrument wird.
Entscheidend für die Qualität der Aufnahmen ist demnach auch das Kapital von
Künstler*innen. Eine musikalische und produktionstechnische Ausbildung sowie die Zugänglichkeit von hochwertigem Produktionsmaterial (Studio-Equipment etc.) prägen das Niveau der Resultate. In der Objektmusik kann durch die Möglichkeiten digitaler Produktion aber auf das Fehlen von kostspieligen Instrumenten und Ausrüstung durch Erfahrung im Umgang mit dem Material reagiert werden. Eine gute Aufnahme kann auf den professionellen Umgang mit Audio-Software, auf den Zugang zu einem Tonstudio, aber eben auch auf die
Qualität des Produktionsmaterials schließen lassen. Die Klangqualität kann unter Umständen Aufschluss über die soziale oder finanzielle Situation von Künstler*innen geben.
Beim Musizieren mit Objekten geht es aber nicht unbedingt um die Exzellenz von Aufnahme oder Wiedergabe, sondern vielmehr um die möglichst direkte Vermittlung einer Auseinandersetzung mit der Umgebung. Die Reduktion auf materielle Klangquellen erleichtert dabei den Zugang zur Musikproduktion. Die Möglichkeit, einen Stuhl, ein Waschbecken oder einen Topfdeckel als (Rhythmus-) Instrument zu ,bespielen‘, steht den meisten Menschen offen. Ohne die Notwendigkeit musiktheoretischer Bildung und ohne auf ein Orchester oder eine Band angewiesen zu sein, macht Objektmusik dem Individuum die Effekte der eigenen Selbstwirksamkeit erfahrbar. Die Übersetzung der Umgebung in Musik gleicht dabei einer gelingenden Kommunikation mit der materiellen Welt.
Wie aber können Klänge die Qualitäten eines Ortes kommunizieren? Der Ort der Aufnahme – eine Wohnung mit ihrer jeweiligen Einrichtung, den Geräuschen der Nachbar*innen und der Straße, oder eine Lagerhalle, voll mit Maschinen oder Baustoffen – liefert ein nahezu unerschöpfliches Arsenal an Klängen. Wie können deren vielschichtige Informationen auf abstrakter, musikalischer Ebene transportiert werden?
Im Alltag wird Objekten bewusst und unbewusst Wert zugesprochen. Auch mit Dingen erzeugtes akustisches Material kann mit Bedeutung belegt werden. Deren Gehalt ist historisch flexibel: Was beispielsweise im Bereich populärer Musik vor siebzig Jahren noch als Lärm gegolten hat, ist heute selbstverständlich Musik. Die Resonanz zwischen Mensch und Material hat dabei einen emotionalen Effekt: Durch das gezielte ,Zum-Schwingen-Bringen‘ von Dingen werden Wellen erzeugt, die dann, auf physischer Ebene, Bereiche des Körpers in Vibration versetzen. Diese Vibrationen wirken wiederum auf die menschliche Verfasstheit. Dabei verlieren Dinge in der Objektmusik einen großen Teil ihrer Alltagsbedeutung. Beispielsweise büßen Statussymbole (goldener Schmuck, Automobile bestimmter Marken etc.) das Meiste des mit ihnen verbundenen, sozialen Wertekomplexes ein. Das abstraktere Wesen ihres Klanges erhält wiederum neues Bedeutungspotenzial. Die Abstraktion bleibt allerdings immer graduell: Durch das objektspezifische Timbre erzählt das Musizieren mit Gegenständen die Geschichte der Dinge implizit mit. Fragmente materieller Beschaffenheit und Spuren von ursprünglichen
Wertzuschreibungen bleiben in den Endprodukten enthalten. Der genaue Zusammenhang eines Klanges mit der durch ihn ausgelösten Emotion bleibt dabei meistens ein persönliches, unlösbares Rätsel.
Der französische Komponist und Vertreter der musique concrète Pierre Henry versieht das Arbeiten mit Dingen mit dem Bild der Bricolage. In Zeiten von Umbrüchen und sozialer Instabilität fühlt sich das Leben selbst mitunter wie eine Bastelarbeit an. Genau dort, in einer Ästhetik des Imperfekten, Rauen und Unfertigen, liegt Potenzial, denn: Teile eines zerfallenden Systems werden fragmentarisch neu zusammengesetzt. Dabei kehrt nicht das Vertraute, Altbekannte zurück. Im besten Fall entsteht ein neues Gefüge mit sozialen, materiellen und künstlerischen Bruchkanten und Entwicklungschancen.
Objektmusiker*innen operieren auf einem Feld der Hybridität. Sie verbinden das leicht Zugängliche, Unmittelbare der Folk-Musik mit dem Elitären der Avantgarde, vereinen eine konzeptionelle, ästhetische Herangehensweise mit emotionaler Wirksamkeit. Sie konfrontieren abstrakte Klänge mit der Substanz des Materiellen und zeigen, dass es sich bei ihrer Arbeit nicht nur um einen musikalischen Stil handelt, sondern um eine persönliche Auseinandersetzung
mit den Herausforderungen der Welt.
Auch mein eigener kompositorischer Versuch spielt auf einer emotionalen, persönlichen Ebene: GLASS 03/22 funktioniert wie ein akustischer Tagebucheintrag. Das Stück dokumentiert die Erinnerung an eine Zweisamkeit, deren Zeugen die beiden bespielten Weingläser über den Zeitraum einer Dekade waren.
 
 
 
© Georg Stanka
 

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