Materialitäten erzählen

Neustart

Sonnenstrahlen tanzen frühmorgens fleckig über die Wände. Ich werde geöffnet, wache langsam auf. Eine Weile dauert es, ich muss mich sortieren, brauche ein wenig Zeit, um nach meinem Schlummer neue Energie für die kommenden Aufgaben zu finden.
Was steht an?
Mein Besitzer wirkt ebenfalls unschlüssig, eine Liste in den Weiten meiner Bibliothek wird herangezogen. Ah, natürlich.
Die Liste hilft weiter, anhand der Stichpunkte arbeiten wir beide gut zusammen, und ich biete Telefonnummern für Umzugsunternehmen, Tabellen zur Tages- Wochen- und Monatsplanung und einen Esstisch, abholbar in der Kaiserstraße 12, „er ist auch schon abgebaut, also müsste er gut ins Auto passen J“.
Dann darf ich erneut ein Nickerchen halten.
*
Ich werde geöffnet, ich bin bereit!
Zunächst werden diverse Nachrichten getippt und von mir zuverlässig versendet.
Mein Besitzer lehnt sich in seinem Stuhl zurück, wir lernen beide über Methoden der physischen Geografie, anschließend ist Mittagszeit, und ich spiele eine Folge über zwei starrköpfige verliebte Menschen im neunzehnten Jahrhundert ab.
Während ich mit Strom gefüttert werde, füttert mein Besitzer sich mit Spaghetti. Als ein kleiner Tomatensoßenspritzer auf mir landet, surre ich demonstrativ etwas lauter. Die Tomatensoße wird weggewischt, ich werde ruhiger. Die starrköpfigen Menschen küssen sich, mein Besitzer lächelt, dann verfolgen wir ein Seminar über Ressourcen und Nachhaltigkeitskreisläufe, dann sieht sich mein Besitzer die verliebten Menschen an, noch einmal. Wieder lächelt er, und ich bin kurz davor, erneut zu surren – gleiche Aufträge, wo bleibt die Herausforderung? – Da blickt er auf meinen kleinen Bruder, schließt mich kurzerhand, und ich muss still sein. Unhöflich. Wirklich.
*
Ich werde geöffnet, es geht weiter! In den nächsten Tagen, in den nächsten Wochen.
Eine Antwort bezüglich „RE: Esstisch“.
Zwei geduldige Stunden für die Bestellung von Kissen.
Nachrichten „Betreff: Hier ist der neue Praktikant!“
Nachricht „Betreff: Stornierung Kissen“.
Nachricht „Betreff: Stromabschluss“.
Tabellen, To-Do-Listen, Nachricht „Betreff: RE: Stornierung Kissen“, Datenverarbeitung, Dateiordner, Nachricht „Betreff: RE: RE: Stornierung Kissen“, Präsentation, Print, Paketverfolgung, Wetterbericht, Wörterbuch, Wegplaner, Nachricht „Betreff: Ihre Bestellung wurde versandt!“
Frustriertes Stöhnen, wir ruhen uns beide aus.
*
Ich werde geöffnet, und ich stehe niedriger, in einer Küche, halb fertig eingerichtet.
Ungewohnte Finger tippen zögernd auf meinen Tasten, ich sehe mich flüchtig um. Keine Tomatensoße in Sicht. Ich gehe zum Tagesgeschäft über, denn es gibt schließlich viel zu tun.
Als ich später durch mein Licht kontrastreiche Schatten auf Möbel und Kartons werfe, tragen mich die fremden Finger zu einem Sofa. Ich werde auf weichem Stoff abgelegt.
„So schlimm sind die Kissen gar nicht“, befindet eine neue Stimme, und mein Besitzer lacht und sagt: „Doch. Schon.“ Wenig begeistert denke ich: „Aha, ein neues ‚RE: RE: RE: Stornierung‘“? Aber es sind nicht meine Entscheidungen, und überhaupt…
Mein Besitzer küsst, und es ist langweilig, und dieses Mal gehe ich von selbst schlafen.
 
 
 
 
 

This page has paths: