Materialitäten erzählen

Ein Geschenk aus der Vergangenheit

von Maximilian Nikolai Seitz


„Liebe Mutter … Ein Blumenstrauß, der nie verwelkt.“
Ernst schaut mich der junge, blonde Mann mit leicht schielenden und deutlich hervortretenden Augen an. Er hält einen Strauß Rosen in der Hand und wirkt mit seinem schwarzen Rollkragenpullover, der blonden Föhnfrisur und der markanten schwarzen Brille irgendwie unheimlich.
„Und so was hat die Oma gehört?“ Amelie, ein für ihr Alter klein geratenes Mädchen mit dicken, leicht krausen Haaren, steht sichtbar verlassen in dem Kellerraum. Zwischen den Bücherstapeln, den prallen Müllsäcken und den Umzugskartons scheint sie ihren Platz nicht so recht zu finden.
„So was haben damals wohl alle gehört.“ Ich schaue die Platte nachdenklich an. Würde man sich so was heutzutage noch kaufen? Das Cover, die Schrift, die Lieder … Das alles hat einen so stark anachronistischen Charme, der zwar in sich geschlossen wirkt, aber mit dem ich beim besten Willen nichts anzufangen weiß. Hörte meine Mutter das wirklich? An Heino kann ich mich nicht erinnern. Klar, Elvis Presley, die Beach Boys und Phil Collins; das lief auf den Kassetten im Auto. Der alte Fiat Panda, der auch für Urlaubsreisen herhalten musste. Nun war die Platte allerdings zu diesem Zeitpunkt schon alt gewesen und hatte vermutlich bereits ausgemustert im Schrank gestanden.
„Weißt du eigentlich, wie das funktioniert?“ Ich hole die schwarze Scheibe aus der Hülle und winke Amelie zu mir. „Hat dir das der Papa oder die Mama mal gezeigt?“ Ihr Blick haftet an einem riesigen Spinnennetz neben dem Heizungsrohr. Doch nach ein paar Sekunden schaut sie mich müde an. Sie zuckt mit den Schultern. „Da ist Musik drauf!“ Mein Tonfall wirkt überraschend begeistert. Wie viele Schallplatten hatte ich in meinem Leben gehört? Schon für meine Generation war es nur eine Kuriosität, ein Relikt. Bei uns gab es CDs, was sollten wir mit Schallplatten?
„Dafür gibt’s doch Internet.“ Unsicher, aber nicht despektierlich rümpft Amelie ihre Nase. Für sie bin ich eben auch schon alt; vermutlich denkt sie, dass ich mit Schallplatten aufgewachsen bin. Oder interessiert sie das überhaupt? „Das gab’s damals noch nicht. Zu der Zeit konntest du nur so Musik hören.“ Zu ihrer und meiner Überraschung springe ich schnell auf und greife mir den dicken Holzkasten vom obersten Regalbrett.
„Oma hat mir mal erzählt, dass sie den hier von ihrem ersten Gehalt gekauft hat.“ Ich studiere Amelies Blicke und stelle fest, dass ich durchaus ihr Interesse geweckt haben dürfte. Sie kommt ein paar Schritte näher, sieht aber in ihrer dunklen Kleidung und dem düsteren Blick immer noch sehr distanziert aus. Vielleicht hat sie so was schon in alten Filmen gesehen? Wobei, geht es mir eigentlich groß anders?
Ich finde eine Steckdose und stelle den robust wirkenden Plattenspieler auf den Boden. Obwohl er aus Holz ist, fühlt er sich kalt und schwer an. Und die Platte ist riesig. Musik ist heutzutage weder schwer noch riesig. Sie ist leicht zu bekommen. Und irgendwie ist Musik auch immer und überall. Nur damals war sie es nicht. „Auf dem Cover stehen die Lieder. Welches möchtest du hören?“ Ich tippe kurz auf die Rückseite des Albums und sehe, wie Amelies Blick gezielt an einem Titel hängenbleibt. „‚Wenn du noch eine Mutter hast‘, vielleicht.“ Ihre Stimme wirkt unsicher, und sie meidet meinen Blick.
Ich kann verstehen, dass es für sie schwer ist. Die letzten Wochen müssen hart für sie gewesen sein. Ich bin erwachsen und habe mein eigenes Leben. Ich wohne nicht einmal mehr in der Gegend. Aber sie ist ein Kind, und Oma war für sie wie eine zweite Mutter.
Weil ich sie nicht verunsichern möchte, wende ich den Blick von ihr ab und räuspere mich kurz. „Ich zeig‘ dir jetzt, wie das funktioniert.“ Vorsichtig lege ich die schwarz glänzende Scheibe auf die Fläche in der Mitte des Plattenspielers. Auf der Platte befindet sich ein runder Aufkleber in einem vergilbten Orange. „Das Lied ist auf Seite 2, an zweiter Position.“ Amelie schaut etwas unsicher zu mir und neigt ihren Kopf leicht zur Seite. Ich nicke ihr zu und zeige ihr ein Lächeln. „Die Position der Lieder sieht man an diesen leicht abgesetzten Rillen auf der Platte.“ Mit Bedacht lege ich meinen Finger auf die Oberfläche und zähle stumm zur zweiten Position. „Und eines noch: Die Platte wird mit 33 Umdrehungen die Minute abgespielt.“
Schon ertönt ein deutliches Knacken. Sowas gibt es bei Musik heutzutage gar nicht mehr – wie denn auch? Amelie schnappt sich kurzerhand das Album, studiert einige Zeit das Cover und wendet die Papphülle anschließend. Ich kann aber nicht sehen, ob sie die Texte wirklich liest. Ihre Augen wirken leer.
„Den allerschönsten Blumenstrauß, bring ihn noch heut zu ihr …“
Unfassbar, wie schnulzig! Das kann man sich doch nicht anhören. Ob meine Mutter so was damals als junge Frau wirklich gemocht hat? Das musste so Anfang oder Mitte der 1970er gewesen sein. Meine Mutter war zu der Zeit sogar etwas jünger als ich heute. Ihre Mutter lebte zu diesem Zeitpunkt allerdings noch.
„Schenk du ihr diesen einen Tag, so lang du sie noch hast …“
Für die Kleine muss das hier ganz schön befremdlich sein. Womöglich denkt sie noch, dass ich gerne so etwas hören würde. Dabei ist der Text gar nicht mal verkehrt. Es geht um den Muttertag – eigentlich ganz harmlos. Trotzdem fährt mir ein Schauer über den Rücken. Ich merke, wie meine Faust sich ballt.
„Sie trug für dich wohl manches Jahr des Lebens Müh und Last …“
Es macht ein unangenehm lautes Geräusch, das sich anhört, als würde jemand mit Gabeln auf Tellern herumkratzen. Mit einem impulsartigen Stoß habe ich den Tonabnehmer quer über die Platte gezerrt. Es ertönt nur noch das leise Knacken, während der Stylus immer wieder zur Mitte springt. Das Geräusch der Stille wirkt beklemmend. Langsam merke ich, wie mir Tränen die Sicht erschweren. Amelie starrt mich an, das sehe ich aus dem Augenwinkel, aber ich wende mich nur ab. Sekundenlang hören wir nur das leere Geräusch der Plattenspielmechanik.
Plötzlich merke ich, wie sich zwei kleine Ärmchen um mich schließen. Ich spüre die Wärme einer Umarmung. Als ich mich umdrehe, blicke ich in Amelies gerötetes Gesicht. Auch sie weint. Niemand von uns schreit, heult oder schluchzt. Zu hören ist nur das vertraute Knacken des Schallplattenspielers. Ich streiche Amelie kurz über die wilden Haare und ringe mir ein Lächeln ab. „Wir haben ihr viel zu verdanken“. Ich quäle mir diese Worte aus der Seele und merke, wie Amelies Umarmung noch fester wird. Nachdem einige Zeit verstrichen ist, klopfe ich ihr sanft auf den Rücken. „Komm‘, lass uns schauen, wie weit deine Mama auf dem Dachboden ist.“
Ich stehe auf, schaue kurz auf den laufenden Plattenspieler und ziehe das Stromkabel aus der Steckdose. Der Drehteller bleibt sofort stehen, und das Knacken verstummt; nur die kleine Leuchte unten links bleibt noch eine Sekunde länger an. Amelie greift meine Hand, und wir gehen zusammen die Kellertreppe hinauf.
 
 
 
© Maximilian Nikolai Seitz
 

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