Materialitäten erzählen

Schicksalsschluck

Ich habe einen Menschen. Von anderen habe ich gehört, dass sie viele von ihnen haben oder hatten, doch bei mir ist es derzeit nur einer, dem ich diene und vollkommen zur Verfügung stehe – mit allem, was ich nun einmal so bieten kann.
Geboren wurde ich an einem Ort der zahllosen Entstehung, mit Geschwistern, von denen ich die meisten seitdem nie wieder gesehen habe und die ihre eigenen Wege gegangen sind. Auf meiner ersten Station war ich noch mit einigen zusammen, ordentlich ruhend aufgereiht, wartend auf das erste Wesen, das für uns tauschen wollen würde. Auch ich fand schließlich meine erste Besitzerin. Von einem Regal ging es in einen Karton, und der Karton bekam ein buntes Papier, und das Papier glitzernde Bänder. Sie haben die Eigenart, Dinge ändern zu wollen, je nach Kontext und Zeit und Person, diese Menschen. Aber ich beschwerte mich nicht.
Später lernte ich, dass meine erste Funktion ‚Tasse‘ hieß und dass meine zweite Verantwortung die eines ‚Geschenkes‘ war. Vom ‚Geschenk‘ wurde ich erneut zur ‚Tasse‘ und durfte nach dem Kartonaufenthalt wieder auf ein Regalbrett ziehen. Dies ist der natürliche Wohnort von Tassen und weiteren runden ‚Gefäßen‘, außerdem von etwas, das sich ‚Geschirr‘ nennt. Ob ich Geschirr bin, weiß ich nicht genau, doch es ändert nichts an meinem Dasein.
Es scheint, als läge der Nutzen von uns runden Gefäßen vorwiegend in der Befüllung. Ich könnte eventuell weitaus mehr als das ermöglichen, muss allerdings zugeben, dass es recht interessant ist, befüllt zu werden. Rote Flüssigkeit, braune Flüssigkeit, klare, dunkle, helle, in feste Form gepresste ‚Nahrung‘, ‚Nahrung‘ in weicher Form, ‚Nahrung‘, die über meinen Rand steht, Wasser, Tee, Kakao, Obst, Popcorn, Salzstangen; ich habe bereits Bekanntschaft mit ‚Besteck‘ gemacht und wurde mit einem ‚Schneebesen‘ gekitzelt – es ist ein abwechslungsreiches Leben, das kann ich sagen!
Nach der Befüllung werde ich gebadet und gesäubert; und das besondere Vergnügen der Reinigung ermöglicht mir meine Besitzerin dabei entweder durch ein sanftes Bad im ‚Waschbecken‘ oder durch die aufregende ‚Spülmaschine‘. So bleibt mein Wohnbrett stets schön ordentlich.
Menschen haben ebenfalls einen Wohnort, den sie mit uns teilen. Wie ähnlich wir uns doch sind, finde ich manchmal bemerkenswert.
Seit einer Weile diene ich nur noch aushilfsweise als Tasse und bin auf ein sehr viel größeres Brett gezogen, das vor allem ‚Papier‘ beheimatet und einen großen schwarzen Kasten, der sehr energisch ist und oft mit meinem Menschen zusammenarbeitet. Man könnte behaupten, dass ich selbst so etwas wie ein Wohnort geworden bin, denn die Dinge in mir namens ‚Stifte‘ bleiben die meiste Zeit dort und verlassen mich immer nur für kurze Zeit; und wenn, dann lediglich für einen Ausflug über das große Brett. Ich sehe ihnen bei ihren Tätigkeiten zu, wie sie gemeinsam mit meinem Menschen etwas erschaffen, ich darf still beobachten und muss mich nicht anstrengen. Eine Art ‚Unterhaltungsprogramm‘, wie mein Mensch sagen würde. Entspannung für mich, bis meine ‚Stifte‘ zurückkehren und mir entzückt von ihren Erfahrungen berichten, während ich geduldig zuhöre.
Die Aufgabe, die ich habe, ist meiner Meinung nach genau richtig für mich. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass Menschen den Wandel brauchen und wollen, doch für mich reicht das, was ich habe, aus. Auch eine lange Zeit auf dem großen Regalbrett, ohne Ziele und neue Funktionen, wäre für mich in Ordnung.
Ein roter Mantel, mit weißen Verzierungen, und ein guter robuster Henkel, das sind meine deutlichsten Eigenschaften. Weder Ehrgeiz noch große Entschlossenheit oder Beharrlichkeit zeichnen mich aus.
Kann ich sagen, was in der Zukunft aus mir wird? Nun… Ich bin zur Aufbewahrung gedacht, meine Ambitionen sind simpel.
Diesen forschenden Auftrag muss jemand anderes erfüllen.
 
 
 
 
 

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