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Kotau
12023-03-07T07:51:56-08:00Adrianna Hlukhovych0e2f9896db598544dfae45d3d5dd5ea762732d0a416121plain2023-03-07T07:51:56-08:00Adrianna Hlukhovych0e2f9896db598544dfae45d3d5dd5ea762732d0aKotau beginnt man im Stehen, man sagt „Om mani padme hum“ und führt die Hände vor dem Gesicht zusammen. Dann macht man einen weiteren Schritt und führt die Hände vor der Brust zusammen. Beim dritten Schritt werden die Hände von der Brust genommen und parallel zum Boden ausgestreckt: Die Handflächen zeigen nach unten zum Boden. Zuerst kniet man, dann neigt man sich zum Boden mit dem ganzen Körper, sodass die Stirn den Boden berührt. Alle drei Schritte werden unterwegs zum heiligen Ort als ein langer Kotau gemacht.
Er musste alle drei Schritte einen Kotau machen, und auf diese Weise lief er in fünf Monaten von Nyingchi nach Lhasa. Wenn er Berge überquerte, berührte sein Körper fast jeden Stein auf dem Weg; und wenn er auf einen Bach stieß, musste er eine Brücke bauen, um über das fließende Wasser zu klettern; und die einzige Nahrung, die er auf dem Weg hatte, war gebratenes Gerstenmehl. Er vermaß das Land mit seinem eigenen Körper und spürte die Verbindung zur Natur mit dem Herzen. Er ignorierte alles um sich herum und ging entschlossen seinen Pilgerweg. Er hatte spezielle Werkzeuge für den Kotau: Lederschürze, Handschuhe, ein hölzernes Handbrett. Da die durchschnittliche Höhe der Berge über 3.500 Meter betrug und man nicht viel Essen mit sich führen konnte, war diese Pilgerreise unvorstellbar schwierig. Als er am Potala-Palast ankam, war jedes Gefühl der Müdigkeit verschwunden. Obwohl er zerlumpt war, konnte man in seinem Gesicht das Glück sehen, das aus seinem Herzen kam. In seiner Vorstellung war der Potala-Palast Sonnenschein, ein heiliger Ort, ein Paradies, eine Welt der Glückseligkeit. Einen Blick auf den Potala-Palast werfen zu können, ist ein Lebenstraum eines jeden Tibeters. Um diesen Traum zu verwirklichen, hätte er alles aufgeben und sich allein auf den Weg machen können, um den heiligen Ort in seinem Herzen zu erreichen. Schließlich erreichte er den heiligen Ort in seinem Herzen und saß bei einem Lama, dem er lange Zeit beim Singen zuhörte. Ich fragte ihn, ob er den Gesang verstehen könne, und er sagte, das könne er nicht. Ich fragte dann noch einmal, warum er noch so lange zuhöre, und er sagte, dass er in einer solchen Situation seinen Geist beruhigen könne. Ich schüttelte den Kopf und sagte, dass ich das nicht verstehe. Ich fragte ihn erneut: „Worum willst du Buddha bitten? Gesundheit, Glück?“ Er sagte, er wolle um nichts bitten, er wolle hier nur den Sonnenschein spüren, und das sei genug. Er ist einer von Tausenden von Pilger*innen. Seit hundert Jahren reisen Pilger*innen aus dem Inneren Chinas, aus den westlichen Ländern, vom Ganges in Indien, aus Nepal, aus Burma, aus den Steppen der Mongolei ...... mit den modernsten Verkehrsmitteln: Flugzeug, Auto und Eisenbahn, aber auch mit den primitivsten Transportmitteln: zu Fuß, rittlings auf einem Pferd, in einem Ochsenkarren... Und noch mehr und mehr von unzähligen frömmsten Buddhisten*innen, die den alten und beschwerlichen Weg der Prüfung fortsetzen, den nur Heilige ertragen können, indem sie auf den Palast zugehen, sich ihm bei jedem Schritt mit einem Kotau nähern. Tausende von Menschen wollen nichts; sie wollen nicht mit Buddha tauschen, sie zeigen nur Respekt und Hingabe. Und in diesem Moment, im Sonnenlicht des Potala-Palastes, werden ihre Körper und ihr Geist vereinigt, gereinigt und schließlich mit Güte gefüllt. Unzählige Paläste sind gestorben, zu Ruinen verfallen oder zu Museen geworden, die für immer verloren sind. Aber der Potala-Palast lebt weiter als Vehikel für ein spirituelles Leben von Weltrang – in der Vergangenheit und in der Zukunft.