Anthrofoto-Vision: Projektbeschreibung des Promotionsvorhabens „Anthrofoto“

Forschungsfrage und Hypothese

Anhand dieser und weiterer Fallbeispiele lässt sich folglich nicht nur herauslesen, wie das Anthropozän in der Fotografie erscheint, sondern auch wie der Mensch in der Fotografie des Anthropozäns erscheint: Auf welche Lesarten und Blickweisen tritt der Titelgeber – Verursacher und eines der Opfer zugleich – eines neuen Erdzeitalters in Erscheinung? Auffallend dabei ist, dass aus der zeitgenössischen Autorenfotografie, die sich explizit dem Anthropozän verschreibt, weniger ikonische Einzelbilder als vielmehr umfangreiche Werkserien hervorgehen, die wiederum in plurimediale Erscheinungskontexte eingehen. Aus medienökologischer sowie zugleich medienanthropologischer Sicht gilt es deshalb zu untersuchen, inwiefern mit dem Erscheinen des Konzepts des Anthropozäns sowohl eine Neubewertung des Werks von populären Autorenfotograf*innen als auch eine Neudefinition der Medienkonstellation des Fotobuchs einhergeht.

Es handelt sich dabei um Fotobuch-Formate, die einerseits nicht mehr ohne neuere Bildtechniken gelesen und betrachtet werden können, sowie andererseits die Trennlinie von klassischen Genres wie der Landschaftsfotografie für Naturdarstellungen und der Porträtfotografie für Menschendarstellungen verwischen. Dies zeigt sich zum einen in den Motiven, die anthropogene anstelle von fotogenen Schauplätzen sowie auch menschliche und nicht-menschliche Objekte wie bedrohte Tierarten oder Umweltkatastrophen abbilden. Zum anderen werden diese aus verschiedenen Perspektiven gezeigt, die den menschlichen Kamerablick durch sogenannte Unmanned Photography wie Luftbild- oder Zeitrafferfotografie oder auch Augmented Reality erweitern. Somit werden unter einer visuellen Kultur des Anthropozäns nicht nur Werkserien subsumiert, sondern auch weitere Bildmedien, die sich zwischen Umweltfotografie und Umweltdokumentarfilm bewegen. Im Fotobuch zeigt sich dies durch die Ein- und Anordnung der Bilder in Format und Layout zu Sequenzen, in welchen die Grenzen zwischen sowohl dem Foto und dem Grafischen als auch zwischen dem Foto und dem Buch fließend sind. Fotografie im Film ist somit neben dem Buch einer der wesentlichen Aushandlungsorte des fotografischen (Selbst-)Bildes.[1]

Darin lässt sich eine kulturwissenschaftliche Lesart erkennen, der zufolge anstelle von Dualismen von Hybriden zwischen Natur und Kultur sowie Mensch und Umwelt die Rede ist.[2] Doch dem Menschen kommt dabei als Betrachter und Beobachter – als Subjekt und Agent des Anthropozäns – eine Doppelrolle zu, die gleichermaßen Verantwortung und Selbstwahrnehmung erfordert. Die im Anthropozän entstandenen „hyperobjects“ zwischen Natur und Kultur werden nicht als Symptome, sondern als Warnsignale sicht- und lesbar.[3] Angesichts von reellen Umweltveränderungen wie Klimaerwärmung, die Versauerung der Ozeane und der Verlust von Biodiversität, um nur einige der aktuellen Diskussionsbeispiele der Anthropozän-Forschung zu nennen,[4] sowie nur scheinbar immateriellen digitalen ‚Bilderfluten‘ ist Vorsicht im Ausrufen von sowohl posthumanen als auch postfotografischen ‚Bilderstürmen‘ geboten. Den Menschen als geologisch, biologisch und atmosphärisch – erdsystemisch – relevanten Einflussfaktor nachzuweisen und anzuerkennen, bleibt indes Aufgabe der Stratigrafie.[5]

In bildanthropologischer Hinsicht lässt sich mit Blick auf das Anthropozän eine Aktualisierung der Anthropologie und Ontologie des Bildes nach Hans Jonas feststellen, nach welcher der Artunterschied des Menschen in den Kulturtechniken der Bildproduktion und des Bildverstehens eines homo pictor zwischen homo sapiens und homo faber liegt – Das Bild tritt als etwas Sichtbar- und somit Menschengemachtes in Jonas‘ ‚Höhlengleichnis‘ zutage: „Dies haben ‚Menschen‘ gemacht!“[6] Mit Blick auf eine Bildtheorie als Phänomenologie verweist Lambert Wiesing darauf, dass ‚Bilder vom Menschen‘ in zweifacher Hinsicht undifferenziert betrachtet werden, wodurch die „anthropologische Betrachtung des vom Menschen gemachten Bildes sich in nicht wenigen Fällen unbegründet auf die Bilder konzentriert, die auch Menschen zeigen oder spezifisch menschliche Themen haben.“[7] Folglich gilt es, den Blick auch hinsichtlich nicht-menschlicher Motive und Perspektiven zu weiten sowie zwischen mentalen und materiellen Menschen-Bildern zu unterscheiden.

Aus medienökologischer Perspektive ist der Mensch zudem in Medienhaushalten zu betrachten, die weniger von Einzelmedien denn Medienverbünden sprechen lassen: Nach der Medienökologie Marshall McLuhans treten Menschen und Medien in eine Umwelt – ein Bedingungs- und Beziehungsgeflecht, das die menschliche Existenz am Übergang einer neuen Epoche definiert.[8] Doch anstelle das vorzeitige „Ende der Gutenberg-Galaxis“ oder „Ende des fotografischen Zeitalters“[9] durch neuartige Medienkonstellationen auszurufen, ist davon auszugehen, dass ‚neue Medien‘ die alten nicht einfach ablösen, sondern vielmehr verändern. Nach Jussi Parikka ist eine Historiografie der Medien mehr noch als Mediengeologie zu beschreiben, die „Medianatures“ nicht mehr nur auf die medialen, sondern auch materiellen und ökologischen Bedingungen von Kulturtechniken zurückführt: „It’s in the intermedia components that one finds a subliminal ‚under the hood‘ history of media that is not merely of media as the object but as an assemblage of different technologies and techniques.“[10] Nach Félix Guattaris Ökosophie und Alfred North Whiteheads Prozessontologie hat Adrian J. Ivakhiv darüber hinaus erstmals eine Ökophilosophie und Medienökologie des Kinos sowie eine prozessual-relationale Medienanalyse entwickelt, in welcher „social ecologies“, „perceptual ecologies“ und „material ecologies“ nicht länger unabhängig voneinander zu betrachten, aber differenziert zu untersuchen sind.[11] Diese Ökologien gilt es um eine transmediale Perspektive zu erweitern.

 „Does environmental photography actually exist?“, fragt Bénédicte Ramade aus kuratorischer Sicht und fordert eine aktualisierte Historiografie der Umweltfotografie mit Blick auf das Anthropozän: Zum einen in Abgrenzung zur romantischen Naturästhetik und Landschaftsfotografie sowie auch, um ein nachträgliches „greenwashing“ der Fotogeschichte zu vermeiden – Vielmehr gelte es, die ,Mutationen' eines hybriden Genres zu erforschen, das Repräsentationen der Erde auf der einen und ihrer Bewohner auf der anderen Seite in sich vereint und neu verhandelt.[12]

Die Zeitschrift Fotogeschichte ruft mit Blick auf das Fotobuch zum „Weiterblättern!“ aus, um „[n]eue Perspektiven der Fotobuchforschung“ jenseits der kunsthistorischen Kritik zu gewinnen;[13] wie sie exemplarisch in Inga Remmers Studie Politische Landschaften der Natur: Fotografie des Anthropozäns aus 2018 vorherrscht, die negative anthropogene Umweltthemen als „konstituierendes Bildelement“ definiert und dabei den Genrebegriff der Umweltfotografie in die deutsche Forschungslandschaft einführt, jedoch nach werkmonografischer Weise und kunsthistorischen Kriterien Einzelgattungen des Genres im Fotobuch untersucht.[14] „Für eine Fotogeschichte des Hyperbook“ spricht sich indes Burcu Dogramaci in der Zeitschrift aus buchwissenschaftlicher und verlagsgeschichtlicher Sicht aus, um den vielfältigen Verbindungen und Bedeutungszuschreibungen zwischen Foto und Buch bzw. Bildern und Büchern im Plural – analog zum hyperimage – nachzugehen.[15] Damit betrachtet Dogramaci das Fotobuch nicht als „beziehungsloses Objekt“, sondern als „relationales Medium“ – und zwar aus einer „Weitsicht, die enge und lose Verbindungen zu anderen Aktanten und Akteur*innen berücksichtigt.“[16]
Dogramaci macht den Begriff mit Blick auf historische und transkulturelle Fotobücher fruchtbar, die dem Verlag focal press und Netzwerk internationaler Autorenfotograf*innen entstammen, um so „Migrationsbewegungen“ in und zwischen den Werken nachzugehen.[17] Doch auch auf zeitgenössische Fotobücher, die sich im Anthropozän verorten und ihm verschreiben, lässt sich der Begriff übertragen, so die These des Dissertationsprojekts. Die Sichtbarmachung und Sichtbarkeit des Anthropozäns ist schließlich durch eine Hypermedialität gekennzeichnet, die zwischen Menschen und Medien, in hyperobjects und Netzwerken ausgehandelt wird. Das interdisziplinäre Forschungsfeld der Environmental Humanities, dem sich das Projekt zuschreibt, macht es sich zur Aufgabe, den Menschen im Anthropozän nicht in positionalen Kategorien oder Dichotomien, sondern in relationalen Konstellationen und Transformationen neu zu bestimmen.[18]
 
[1] Vgl. Glasenapp, „Zur Fotografie im Film“, S. 150.
[2] Vgl. Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 20.
[3] Vgl. Morton, „Sublime Objects“, S. 207.
[4] Zusammenfassend: O’Hara, Climate Change.
[5] Das Anthropozän ist als geochronologische Epoche bisher nicht formal durch die International Commission on Stratigraphy anerkannt.
[6] Jonas, „Die Freiheit des Bildens“, S. 26.
[7] Wiesing, Artifizielle Präsenz, S. 24.
[8] Vgl. McLuhan, Gutenberg-Galaxis.
[9] Vgl. Wolf, Paradigma Fotografie.
[10] Parikka zit. in Richterich, „A Geology of Media“, S. 220. Siehe hierzu auch: Ders. u. Dvořák, Photography Off the Scale.
[11]
Siehe hierzu: Ivakhiv, Ecologies of the Moving Image. Siehe hierzu auch: Guattari, Die drei Ökologien; Whitehead, Adventures of Ideas.
[12] Ramade, „From Nature to the Anthropocene“, S. 23.
[13] Schürmann u. Siegel, „Neue Perspektiven“, S. 5.
[14] Remmers, Politische Landschaften der Natur, S. 327: Daraus folgert Remmers eine notwendige Ästhetisierung des Anthropozäns.
[15] Dogramaci, „Für eine Fotogeschichte des Hyperbook“. Siehe auch zum Bild im Plural: Thürlemann, Für eine Kunstgeschichte des hyperimage; Dunker, Bilder-Plural.
[16] Ebd., S. 35.
[17] Ebd. An anderer Stelle setzt sich Dogramaci ebenfalls in der Zeitschrift Fotogeschichte ein „Für eine politische und gesellschaftlich relevante Fotografieforschung“.
[18] Einführend: Bergthaller, Emmett, Johns-Putra et al., „Mapping Common Ground“; Heise, „The Environmental Humanities“.

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