Anthrofoto-Vision: Projektbeschreibung des Promotionsvorhabens „Anthrofoto“

Forschungslücke und Analysebegriffe

Der von Dogramaci geforderte Weitblick auf das Fotobuch als Hyperbook lässt sich folglich in zweifacher Hinsicht auf das Projekt anwenden: Zum einen im Hinblick auf die Produktion und Zirkulation der fotografischen Bilder sowie zum anderen in Bezug auf die in ihrer Präsentation sicht- und lesbar gemachten Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt. Dadurch gerät das Fotobuch als Aushandlungsort von zeitgenössischer Umweltfotografie in dessen hybrider Medienumgebung und Beziehung zum Menschen im Anthropozän in den Blick. Bereits bestehende Definitionen des Fotobuchs variieren hauptsächlich hinsichtlich des Text-Bild-Verhältnisses, wobei den Fotografien zumeist eine bedeutungstragende Rolle zugeschrieben wird.[1] Das vorliegende Projekt hingegen untersucht das Fotobuch nicht als Einzelwerk, sondern fokussiert auf die Erscheinungskontexte und Bedeutungsnetzwerke, in welchen Umweltfotografie als und durch eine komplexe Medienumwelt in Erscheinung tritt.

Ähnlich wie das Kompositum des Fotobuchs fungiert auch das des Menschenbildes als Relationsbegriff in der Arbeit, mehr noch als Metaphernbegriff nach Hans Blumenberg, der durch Komplexitätsreduktion dem Welt- und Selbstverständnis des Menschen dient.[2] Der Begriff lässt sich einerseits als Metapher lesen, andererseits aber auch als Medienbegriff verstehen: Medien bilden Menschenbilder nicht nur ab, sondern bilden diese auch aus. Somit basiert die Arbeit auf der „Annahme, dass Menschenbilder einerseits transmediale, mehrere Einzelmedien übergreifende Konstrukte sind: Sie werden nicht durch ein Medium allein geformt, sondern durch das Zusammenwirken vieler Medien.“[3] Die konkreten Medienkonstellationen von Menschenbildern sind und bleiben andererseits von den spezifischen Eigenheiten einzelner Medien abhängig.[4] Menschenbilder in und aus der Fotografie sind bereits im Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen mit einem Fokus auf künstlerischer Fotografie im 20. Jahrhundert und damit einhergehend einer Ästhetik sowie Kritik des Kolonialismus und Nationalsozialismus untersucht worden.[5] Denn auch im Hinblick auf die Fotografie sind Menschenbilder als Medienbeziehungen zu betrachten:

„Fotografische Menschenbilder stehen nie für sich allein. Sie sind immer relational, in einem permanenten Austauschverhältnis mit anderen Bildern zu denken.“[6]

Im Referenzwerk Handbuch Menschenbilder sieht Regine Kather aus wissenschafts- und natur-philosophischer Sicht die Untersuchung eines Zusammenhangs zwischen Menschenbildern und Naturkonzepten als Forschungsdesiderat, zu dem sie bereits einzelne historische „Quellen, die Menschenbilder legitimieren“, überblicksartig heranzieht.[7] Vor dem Hintergrund globaler Umweltveränderungen liest der Historiker Dipesh Chakrabarty aus zeitgenössischen kulturkritischen und naturwissenschaftlichen Texten „three images of the human“ heraus, die den Menschen gleichzeitig und widersprüchlich als Subjekt der Aufklärung, der Postmoderne und des Anthropozäns beschreiben.[8] Letzteres betrachtet Chakrabarty später hinsichtlich eines Epochenbewusstseins aus der Perspektive zweier konkurrierender Welt- und somit korrespondierender Menschenbilder – eines homozentrischen des „homo“ und eines zoozentrischen des „anthropos“.[9]

Nach der ersten kulturwissenschaftlichen Einführung zum Anthropozän handelt es sich bei dieser Unterscheidung um „das Kernproblem des Begriffs vom Menschen im Anthropozän“, wobei der anthropos als ökologisches „Korrektiv“ des homo erscheine.[10] Das Begriffspaar des homo und anthropos wird demnach als eine Skala zwischen den beiden Polen des Ökomodernismus – und damit Vertretern eines „Good Anthropocene“ – sowie des Posthumanismus – und damit in Form von „interspecies relationsships“ – betrachtet.[11] Im Hinblick darauf, dass die Handlungsmacht des Anthropos nur in naturwissenschaftlichen Daten und Diagrammen abgebildet werden könne, folgert Hannes Bajohr aus der Differenzierung Chakrabartys einen „Skalierungsbegriff“ und somit eine „noch ungelöste Aufgabe“, bei welcher die Negative Anthropologie „im Aushandlungsprozess zwischen anti- und neohumanistischen Ansätzen“ vermittelt.[12] Daniel Chernilo liefert aus Sicht der Soziologie in dem von Bajohr herausgegebenen Band Der Anthropos im Anthropozän das bildanthropologische Argument, „die der Anthropozändebatte zugrundeliegenden, impliziten Vorstellungen des Menschen zu erkunden“ wie etwa eine naturwissenschaftliche „reduktionistische Darstellung des Anthropos“.[13]


Aus einer ökologisch orientierten Literatur- und Kulturwissenschaft hat sich indes die Disziplin des Ecocriticism gebildet, die den Wechselbeziehungen und zugleich Mediatisierungen zwischen Kultur und Natur nachgeht.[14] Folglich gilt es, die potenziell positiv und in populärer Form vorliegenden Fallbeispiele von anthropozänen Menschenbildern in Fotobüchern systematisch und kritisch zu untersuchen. Dabei sind die (im-)materiellen, konzeptuellen und visuellen fotografischen Menschenbilder aus den intermedialen Bezügen der Umweltfotografie und transmedialen Zusammenhängen des Fotobuchs mit Blick auf ein zu formulierendes Inter- und Transmedia Ecocriticism des Hyperbook herauszulesen. Als kulturelle Texte, in welchen der Mensch sich und seine Umwelt konzeptualisiert wie materialisiert, werden dabei nicht nur Text-Bild-Beziehungen, sondern auch Bild-Bild-Bezüge in Betracht gezogen.

Neben der Produktionsästhetik bildet auch die Rezeptionsästhetik des Hyperbook eine Forschungsperspektive,[15] insofern im Vergleich zu anderen Foto-Medienkonstellationen im Anthropozän eine reflektierte Bildlektüre stattfinden kann, die ein Brennglas für aufmerksamkeitsökologische Seh- und Lesestrategien darstellt.
Als produktive Schnittstelle zwischen Umweltfotografie und Umweltdokumentarfilm und somit medienkomparatistischer Analysebegriff dient die Montage und die Sequenz als gemeinsame Analyseeinheit. Bislang fehlt eine umfassende Theorie des Fotobuchs und somit des Hyperbook, auch wenn es mittlerweile eine Reihe von ‚Fotobüchern über Fotobücher‘ gibt.[16] Auch die Medienspezifik des Fotobuchs ist – wie die Fotografie allgemein –[17] bisher zumeist medienvergleichend bestimmt, etwa wenn vom „Buchkinema“ die Rede ist.[18] Patrizia Di Bello und Shamoon Zamir wenden Sergej Eisensteins Filmtheorie produktiv auf das Fotobuch an, indem sie von einer aktiven und performativen Rolle der inneren Montage der Bilder ausgehen: Erst in der rezipierten und reflexiven Bildabfolge kann ein ‚Gesamtbild‘ entstehen, das mehr als eine bloße Bildersumme ergibt.[19] Demnach ergeben sich die spezifischen Sichtweisen auf den Menschen im Kontext der jeweiligen Bild(um)welt. Dabei kann es zwischen Betrachter und Fotograf in der Bildlektüre zu Spannungs- wie Spiegelmomenten zwischen Menschen-, Landschafts- und Schönheitsbild sowie Welt-, Selbst- und Fremdbild kommen.

[1] Vgl. Parr u. Badger, The Photobook, S. 6; Dogramaci, Düdder, Dufhues et al., „Das Fotobuch als Medium künstlerischer Artikulation“, S. 13.
[2] Vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt. Der spezifisch deutsche Begriff des Menschenbildes geht zurück auf Friedrich Nietzsche, siehe hierzu die von ihm selbst veröffentlichten Werke Unzeitgemäße Betrachtungen und Menschliches, Allzumenschliches.
[3] Eder, Imorde, Reinerth, „Medialität und Menschenbild“, S. 2.
[4] Vgl. ebd.
[5] DFG, SFB 447 Kulturen des Performativen, Freie Universität Berlin: „Die Performativität fotografischer Menschenbilder. Strategien zur Erfassung, Formung und Einverleibung“, 2005–2010.
[6] Crasemann, Weiss, „Um/Ordnungen fotografischer Menschenbilder“, S. 10.
[7] Kather, „Das Netz des Lebens“, S. 3.
[8] Chakrabarty, „Postcolonial Studies“, S. 1.
[9] Ders., „The Human Condition in the Anthropocene“, S. 147.
[10] Horn, „Anthropos“, S. 85.
[11] Ebd., S. 85 ff. Siehe zum Ökomodernismus exemplarisch: Brand, Whole Earth Discipline; Asafu-Adjaye et al., „An Ecomodernist Manifesto“. Siehe zum Posthumanismus exemplarisch: Tsing, „Unruly Edges“; Clark, Inhuman Nature.
[12] Bajohr, „Anthropozän und Negative Anthropologie“, S. 9.
[13] Chernilo, „Die Frage nach dem Menschen in der Anthropozändebatte“, S. 58.
[14] Einführend: Dürbeck u. Stobbe, Ecocriticism; Bühler, Ecocriticism; Dürbeck, Stobbe, Zapf u. Zemanek, Ecological Thought.
[15] Die Rezeptionsästhetik gerät zunehmend in den Blick der Fotobuchforschung, siehe die beiden führenden Zeitschriften aus dem Jahr 2021: Schürmann u. Siegel, „Neue Perspektiven“; Schaden u. Schaden, „The Reception of Photobooks“. Siehe hierzu auch: Montag Stiftung, Das Fotobuch in Kunst und Gesellschaft; Johnston, „A Turn to Reception“.
[16] Bei Heiting u. Jaeger, Autopsie, heißt es selbstreflexiv auf S. 9: „Die Zunahme an visuell attraktiven Veröffentlichungen über Fotobücher hat neben Augenfreude und Erkenntnisgewinn allerdings auch Probleme hervorgerufen“ – etwa auch rechtlicher und ökonomischer Art.
[17]  Die Fotografie wurde zumeist im Vergleich und Kontrast zu den anderen dominierenden Bildmedien Malerei und Film bestimmt – prominent bei: Bazin, „Ontologie des photographischen Bildes“. In der kanonisierten Fototheorie dominieren zudem Ansätze, die auf das Einzelbild fokussieren – siehe etwa: Barthes, „Die Fotografie als Botschaft“; Sontag, Über Fotografie.
[18] Siehe zum Begriff des „Buchkinema“: Molzahn, „Nicht mehr Lesen! Sehen!“.
[19] Vgl. Di Bello u. Zamir, „Introduction“, S. 1 f. Zur Montagetheorie siehe: Lenz u. Dietrichs, Sergej Eisenstein

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